Der Verehrer
Geilheit in den Augen der Männer an manchen Abenden Übelkeit. Heute war so ein Abend.
Sie hatte Kopfweh, was an der Hitze, den Reisestrapazen oder an der Frustration liegen mochte – oder an allem zusammen.
Ist es denn wirklich so wichtig, mit dieser Frau zu sprechen? fragte sie sich. Aber irgend etwas sagte ihr, daß es wichtig sei, sonst hätte sie nicht alles für den Besuch in die Wege geleitet; sonst würde sie sich jetzt nicht so elend, so zurückgewiesen, so tief enttäuscht fühlen.
Und dann war da auch noch diese andere Stimme; die, deren Flüstern sie schon vorher vernommen hatte, als sie vor Lydias Haus gestanden und vergeblich geklingelt hatte: die Stimme, die davon sprach, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Lydia Behrenburg war so versessen auf das Treffen gewesen. Lisa erinnerte sich, sie fast schon als aufdringlich empfunden zu haben. Sie hatte davon geredet, daß sie so wenig Kontakt mit anderen Menschen hatte und daß sie sich so freue auf Lisas Besuch. Lisa wußte noch, daß sie gedacht hatte: Meine Güte, die muß aber einen Notstand haben! So ein Gespräch mit mir über einen geisteskranken
Verbrecher muß doch gräßlich sein für sie. Wie kann sie da so begeistert reagieren?
Und diese Frau verreiste nun einfach, diese einsame Person, die sich schon über den Anruf einer Wildfremden freute? Wohin sollte sie überhaupt reisen? Da gibt es viele Möglichkeiten, sagte Lisa zu sich, vielleicht ist jemand aus ihrer Familie krank geworden oder gestorben, und sie mußte Hals über Kopf dorthin reisen. Da hat sie dann an mich natürlich nicht mehr gedacht.
Irgendwie blieb das ungute Gefühl jedoch bestehen, auch dann noch, als sie bezahlte, aufstand und sich durch die stillen Straßen auf den Rückweg machte. Die warme Nacht duftete in einer Intensität, wie Lisa es lange nicht mehr erlebt hatte. Oder hatte sie nur nicht mehr darauf geachtet? Vielleicht war es ganz normal, daß sie dieses Gefühl von Bedrohung hatte; es lag an der Angelegenheit, in der sie unterwegs war, daran, daß das Verbrechen plötzlich in ihr Leben getreten war. Sie dachte, daß es kein Wunder war, daß die Angehörigen von Verbrechensopfern intensiver Hilfe und Unterstützung nach der Tat bedurften. Es ging nicht nur einfach darum, die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen zu bewältigen. Es ging darum, daß das Leben seine gewohnte Bahn verließ, wenn Gewalt und Wahnsinn in es eindrangen. Entgegen allem, was man sah und hörte ringsum auf der Welt, glaubte man nicht wirklich an die Existenz des Bösen. Schlug es zu, war man getroffen, als habe man nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung gezogen.
Und man zieht sie auch nicht in Erwägung, dachte Lisa. Bis es passiert, hält man sich für immun. Und danach fühlt man sich schutzlos und nackt wie ein neugeborenes Kind.
Auf einmal spürte sie den starken Wunsch, jemand würde sie in den Arm nehmen. Sie wünschte, sie könnte ihren Kopf anlehnen und weinen. Sie wünschte, jemand
würde ihr sagen, daß sie keine Angst haben müsse. Sie wünschte, sie wäre ein kleines Kind, dem jemand Schokolade in den Mund steckte, damit es wieder lachen konnte.
Aber sie war kein Kind, und niemand erschien, um sie zu trösten. Sie ging allein durch die dunklen Straßen dieser fremden Stadt, und die anheimelnden Lichter aus den Häusern rechts und links, die Stimmen und das Gelächter, die gedämpft aus den rückwärtigen Gärten klangen, grenzten sie aus und warfen sie auf sich selbst zurück.
Irgendwo lief der Mörder ihrer Schwester herum. Aber auf einmal waren weder er noch die tote Anna länger wichtig. Auf einmal fühlte Lisa, daß sie schon viel toter war als Anna. Wenn Totsein Leere und Dunkelheit waren, dann war sie tot. Dann war es nur noch ein dummer Zufall, daß ihr Herz ständig weiterschlug.
»O Gott, Leona, ich brauche eine Pause! Wenn ich noch einmal tanze, falle ich ins Wasser!«
Carolin ließ sich neben Leona auf den weichen Waldboden fallen, strich sich die Haare aus dem erhitzten Gesicht. Im Schein der Feuer und Fackeln konnte Leona sehen, daß die Wangen ihrer Schwester glühten.
»Willst du was trinken?« fragte sie.
»Gern!«
Dankbar nahm Carolin den Becher mit Wein entgegen, den Leona ihr reichte.
»Tim will mich sobald wie möglich in Lauberg besuchen, stell dir vor! Wie soll ich das Ben klarmachen?«
»Vielleicht wirst du eine Entscheidung treffen müssen!«
»Tim ist Gärtner ! Wie findest du das? Er wäre der erste meiner
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