Der Verehrer
Veranda im Liegestuhl gesessen und in einer Illustrierten gelesen, als Carolin, gefolgt von Felix, um die Ecke gebogen war.
»Hallo, Leona!« hatte sie gesagt. »Hier sind wir!«
Leona war hochgeschreckt, hatte Schwester und Neffen entgeistert angesehen.
»Wo kommt ihr denn her?«
Carolin verstaute den Autoschlüssel in ihrer Handtasche und ging die Stufen zur Veranda hinauf.
»Aus Lauberg natürlich. Ich dachte, du freust dich vielleicht über ein bißchen Gesellschaft.«
»Tante Leona!« schrie Felix glücklich.
Leona stand von ihrem Liegestuhl auf und breitete die Arme aus. Felix stürzte hinein, ließ sich hochheben und sogar küssen.
»Freust du dich?« rief er.
»Und wie«, versicherte Leona. Über Felix’ Kopf hinweg sah sie ihre Schwester an.
»Du solltest doch nicht …«
Carolin hob beide Hände. »Mir ist niemand gefolgt. Ich schwöre es!«
»Nicht deshalb. Ich will einfach nicht … ich will es alleine schaffen.«
»Schon gut. Aber im Moment brauchst du jemanden, der dir ins Gewissen redet.« Carolin ließ sich auf einen der Gartenstühle fallen.
»Meine Güte, ist das heiß heute! Ich bin fast zerschmolzen im Auto!«
»Hast du Eis, Tante Leona?« fragte Felix.
Leona setzte ihn auf den Boden.
»Im Tiefkühlfach im Eisschrank. Hol dir eins!« Felix rannte ins Haus. Leona sah ihre Schwester an.
»Wieso brauche ich jemanden, der mir ins Gewissen redet? «
»Wolfgang hat mich angerufen. Er sagt, du willst am Montag wieder nach Hause zurückkehren.«
»Am Sonntag. Morgen abend.«
»Du bist verrückt. Dann ist doch alles hier umsonst gewesen. «
»Das mag für dich so aussehen. Für mich war es eine ganz wichtige Zeit. Ich weiß jetzt eine Menge mehr als vorher. «
»Und was weißt du?«
Leona schüttelte den Kopf. »Das werde ich dir irgendwann
einmal erzählen. Nicht jetzt.« Sie lächelte. »Weißt du«, sagte sie, »du wirst mich zwar ganz sicher nicht davon abhalten, morgen abend nach Frankfurt zurückzufahren, aber ich freue mich trotzdem, daß ihr da seid. Hast du Lust, mich heute abend mit Felix zusammen zu einer Party zu begleiten?«
Der Junge, der zu ihrem Haus gekommen war und sie eingeladen hatte, war ihnen sogleich entgegengeeilt, als sie den Weiher im Wald erreichten. Er konnte es kaum fassen, daß Leona wirklich erschienen war.
»Find’ ich echt klasse von Ihnen«, sagte er verlegen, »hätte ich nicht gedacht, ehrlich nicht.«
Carolin streckte ihm die Hand hin. »Ich heiße Carolin. Ich bin Leonas Schwester.«
»Ach, toll, daß Sie auch da sind. Ich heiße Jens!«
»Er hat ganz feuchte Hände«, flüsterte Carolin Leona zu, »ich glaube, du bringst ihn unheimlich in Verlegenheit. «
Es wimmelte von jungen Leuten um den See herum; aus all den vielen kleinen Dörfern im Umland mußten sie zusammengeströmt sein. An mehreren Feuerstellen wurden Würstchen, Kartoffeln und Mais gegrillt. Es gab Salate, Brot und unzählige Kisten mit Wein und Bier. Leona hatte ebenfalls einige Weinflaschen und eine Schüssel Kartoffelsalat mitgebracht. Sie fühlte sich ein wenig außerhalb des Geschehens, da sie doppelt so alt war wie die meisten Anwesenden. Allerdings schien das niemanden zu stören. Die Stimmung war unkompliziert und fröhlich. Leona kannte die Musik nicht, die in ohrenbetäubender Lautstärke um den Weiher dröhnte, aber es war offensichtlich, daß die jungen Leute ganz heiß darauf waren. Wer nicht aß, tanzte, und ab und zu verzogen sich schmusende Pärchen in die
Büsche. Jemand hatte ein Schlauchboot mitgebracht, das nun über das schwarze Wasser trieb; darin saßen ein paar verträumt dreinblickende Mädchen mit den sanften Madonnengesichtern der weiblichen Flowerpower-Jugend aus den sechziger Jahren. Sie hielten brennende Kerzen in den Händen und schienen vor sich hin zu summen.
Leona, die auf einem Baumstamm saß, ein Glas Wein in der Hand, lächelte etwas wehmütig. Wie jung sie sind, dachte sie, und wie ernsthaft.
Carolin tanzte mit einem bärtigen jungen Mann, der an die zwei Meter groß war und sich völlig gegen den Rhythmus bewegte, dies jedoch mit einer Art rührender Hingabe tat. Felix baute, unterstützt von zwei Mädchen, einen Staudamm am Rande des Weihers. Die Luft kühlte jetzt am Abend kaum ab. Die Juninacht war hell, um zehn Uhr war es noch immer nicht ganz dunkel geworden.
»Geht es Ihnen gut? Sie wirken so nachdenklich!«
Leona blickte auf. Jens stand vor ihr. Er trug seine schwarze Motorrad-Lederkleidung , in der er sich fast zu
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