Der Verehrer
Schwester ist tot.«
Schweigen. Dann sagte die andere entsetzt: »O Gott!«
Lisa fuhr rasch fort: »Anna ist vor sechs Jahren von uns weggegangen. Sie wollte nach Südamerika. Wir haben keine Ahnung, wo sie die ganze Zeit über war.«
»Das ist ja furchtbar! Wie … ich meine, woran ist sie denn gestorben?«
»Sie wurde ermordet. Im Wald bei unserem Dorf.«
Die Anruferin mußte diese Information erst einmal verdauen und schwieg wiederum für einige Sekunden. Lisa überlegte unterdessen, weshalb ihre Schwester einer Urlaubsbekanntschaft, die sie offenbar gern einmal hatte wiedersehen wollen, die Telefonnummer ihrer Familie in Deutschland gegeben hatte, bei der sie zu dem damaligen Zeitpunkt schon längst nicht mehr gewohnt hatte.
»Hat meine Schwester Ihnen denn gesagt, wo sie wohnt?« fragte sie.
»In … ich weiß nicht mehr, wie das Dorf heißt, irgendwo bei Augsburg.«
Sie hatte nicht nur die Telefonnummer, sie hatte auch die Adresse von daheim angegeben. Sie mußte schon vor einem Jahr vorgehabt haben, wieder nach Hause zu kommen.
»Wo wohnen Sie denn?« fragte Lisa.
»In München. Deshalb dachte ich, man könnte sich doch einmal treffen. Ich hatte ja keine Ahnung , daß sie … das ist wirklich entsetzlich! Weiß man, wer es getan hat?«
»Die Polizei tappt im dunkeln.«
Genaugenommen wußte Lisa nicht, ob die Polizei überhaupt noch mit der Aufklärung des Verbrechens beschäftigt war oder den Fall längst zu den Akten gelegt hatte. Sie hatte lange nichts mehr gehört.
»Also, das tut mir alles wirklich sehr leid«, sagte Frederica, aber ehe sie sich verabschieden und den Hörer auflegen konnte, sagte Lisa schnell: »Hören Sie, Frau Hofer, ich würde mich gern mit Ihnen treffen. Für mich sind Sie im Augenblick der einzige Mensch, der mir etwas über meine Schwester erzählen kann. Hätten Sie irgendwann einmal ein oder zwei Stunden Zeit für mich?«
»Oh, ich weiß aber kaum etwas.«
Frederica klang äußerst unbehaglich. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, schien sie bestrebt, sich in keinerlei Unannehmlichkeiten hineinziehen zu lassen.
»Wie gesagt, es war eine kurze Urlaubsbekanntschaft …«
Du weißt mehr, als du zugibst, dachte Lisa, eure Bekanntschaft war immerhin intensiv genug, daß du Anna ein Jahr später anzurufen versuchst.
»Ich bin wegen meines kranken Vaters ziemlich unbeweglich, aber ich könnte trotzdem versuchen, zu Ihnen nach München …«
Klick! Frederica hatte ohne ein weiteres Wort aufgelegt.
»Dumme Kuh!« sagte Lisa laut und inbrünstig und legte ebenfalls auf.
Sie starrte den Telefonapparat an, als könne er auf wundersame Weise mit weiteren Neuigkeiten herausrücken. Frederica Hofer.
Sie notierte den Namen auf einem Notizblock, malte nachdenklich ein paar Kringel darum. Über Auskunft oder Telefonbuch müßte herauszubekommen sein, wo diese Frau wohnte. Dann konnte man sie einfach aufsuchen. Wenn sie, Lisa, erst vor ihrer Tür stand, bliebe ihr nichts übrig, als sich den Fragen zu stellen.
Der letzte Mensch, den ich kenne, der mit Anna gesprochen hat, dachte Lisa, und ein Schauer lief über ihren Rücken.
Anna war vor einem Jahr in Spanien gewesen. Verglichen mit Südamerika erschien das Lisa ganz nah, fast um die Ecke. Wie war Anna gewesen? Fröhlich, glücklich, gesund? Hatte sie von ihrer Familie gesprochen?
Tausend Fragen brannten in Lisa. Kurz überlegte sie, ob sie Kommissar Hülsch anrufen sollte, doch verwarf sie diesen Gedanken gleich wieder. Die Polizei würde versuchen, Frederica aufzuspüren und zu befragen, und Lisa würde vermutlich keinerlei Informationen bekommen. Oberstes Anliegen der Polizei war es, Annas Mörder zu fassen. Auch Lisa wünschte, den Kerl hinter Schloß und Riegel zu wissen. Aber für sie ging es zudem um viel mehr: nämlich darum, eine sechs Jahre lang verschollene Schwester wiederzufinden. Sie neu kennenzulernen, sich ihr zu nähern. Die winzige Quelle, die sich ihr nun aufgetan hatte, würde sie nicht preisgeben. Nicht, bevor sie sie nicht ausgeschöpft hatte.
»Lisa!« rief ihr Vater mit zittriger Stimme aus seinem Zimmer.
Sie seufzte. »Ich komme schon.«
Ihm würde sie auch nichts sagen. Er würde es sowieso nicht begreifen. Und ihn beschäftigte ohnehin nur noch sein eigener Tod.
11
Ende Januar fiel es Wolfgang endlich ein, wer Lydia war. Nicht, daß er die ganze Zeit darüber nachgegrübelt hätte. Aber irgendwo in seinem Hinterkopf hatte das Rätsel immer herumgespukt.
Natürlich
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