Der Verehrer
zeigte ihm all die Orte und Plätze, die ihr in der Kindheit etwas bedeutet hatten: den Weiher im Dorf, auf dem sie Schlittschuh gelaufen war; die Zwergschule, in die sie während der ersten vier Schuljahre gegangen war; den Baum im Wald, auf dem sie mit ihren Freunden ein Baumhaus gebaut hatte; die Kirche, die sie mit ihren Eltern und Schwestern jeden Sonntag besucht hatte.
Sie gingen zu dem Moorsee im Wald, in dem Leona schwimmen gelernt hatte. Er war jetzt mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Die Dämmerung kroch gerade über die verschneiten Baumwipfel. Ein letztes diffuses Licht erhellte die Lichtung. Schwere Wolken kündeten von neuem Schneefall.
»Jetzt kennst du meine Kindheit«, sagte Leona, und ihr war ganz eigenartig und feierlich zumute, »alles, was wichtig war. Alles, was mir für immer etwas bedeuten wird.«
Er sah sich um. »Eine Idylle«, bestätigte er, »eine vollkommene Idylle.«
»Meine Eltern haben lange nach diesem Ort, nach diesem Haus gesucht«, erklärte Leona, »obwohl die Ära noch gar nicht angebrochen war, waren sie so etwas wie die ersten Blumenkinder. Sie suchten die Natur, den Frieden. Meine Mutter war wie eine Katze, die ihre Jungen an einen Platz bringt, an dem ihnen keine Gefahr droht.«
Robert lächelte. »Diesen Platz gibt es nicht«, sagte er, »nicht auf dieser Erde jedenfalls.«
»Sie glaubten ihn hier gefunden zu haben.«
Es war typisch für Robert, daß er die Probleme bereits erkannt hatte.
»Aber manches holte sie auch hier ein, nicht? Sie konnten die Idylle nicht bewahren.«
»Es ging erstaunlich lange gut«, sagte Leona.
Sie blickte auf die Eisfläche zu ihren Füßen, auf der sich kreischend ein paar große, schwarze Krähen niedergelassen hatten. Ein Entenschwarm stob mit erschrecktem Flügelschlagen aus einem nahen Gebüsch.
»Die erste wirkliche Tragödie, die uns ereilte, war Danys Geburt. Als feststand, daß sie behindert war.«
»Das hätte keine Tragödie werden müssen.«
»Es ist eine geworden, so wie Olivia damit umgeht. Sie rennt vierundzwanzig Stunden am Tag um dieses Kind herum, läßt es über Wochen hinweg wegen aller möglichen psychosomatisch bedingten Krankheiten von der Schule beurlauben und zerstört sich bei all dem Stück um Stück selbst.«
»Sie liebt Dany sehr, nehme ich an.«
»Sie gibt sich vor allem die Schuld an allem, da liegt der springende Punkt. Damit wird sie nicht fertig.«
»Aber …«
»Das Schlimme ist, daß sie wohl wirklich nicht schuldlos ist«, sagte Leona. »Sie ist damals viel zu spät ins Krankenhaus gegangen, weil sie unbedingt einen Artikel für die Zeitung fertigschreiben wollte, für die sie arbeitete. Das war typisch für Olivia zu dieser Zeit. Sie brannte vor Ehrgeiz. Jedenfalls kam es dann zu Komplikationen, und das Kind war wohl für eine zu lange Zeitspanne ohne Sauerstoff. Jetzt ist Dany schwerstbehindert, und Olivia versucht zu büßen, indem sie für das Kind ihr Leben ruiniert.«
»Die Familie kann ihr da wohl nicht helfen.«
»Wir haben uns alle schon den Mund fusselig geredet. Olivia will nicht einsehen, daß sie mit ihrem Verhalten ja auch Dany schädigt. Unter der professionellen Anleitung
ausgebildeter Pädagogen in einem Heim könnte Dany bestimmt manches lernen, was ihr das Leben erleichtert. Sie würde gefordert werden, anstatt abwechselnd stumpf oder aggressiv vor sich hin zu vegetieren. Was Olivia jetzt tut, indem sie sie völlig abgeschottet im Schoß der Familie aufwachsen läßt, ohne Disziplin und ohne Aufgaben, verhätschelt von ihr und Elisabeth – das ist das eigentliche Verbrechen an diesem Kind.«
»Wie alt ist Dany jetzt?«
»Dreizehn. Selbst wenn Olivia es sich jetzt noch anders überlegen würde, hätte sie die kostbarsten Jahre schon vertan. Aber sie wird es sich nicht anders überlegen.«
Er nickte nachdenklich. Die Dämmerung vertiefte sich rasch. Es wurde kälter, und ein paar Schneeflocken wirbelten schon durch die Luft.
»Und Carolin, unsere Jüngste, ist auch ein Problemkind«, fuhr Leona fort. »Sie bestand immer nur aus geballter Opposition, solange ich denken kann. Ich war der einzige Mensch, der überhaupt etwas Einfluß hatte, an den sie sich wandte mit all den krausen Ideen, die in ihrem Kopf herumspukten. Sie hat dieses Dorf gehaßt, die Menschen, die Idylle.«
»Aber sie ist hiergeblieben.«
Leona lachte. »Ironie des Schicksals. Über all dem Demonstrieren, Protestieren, Opponieren hat sie völlig vergessen, sich um so banale Dinge wie einen
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