Der Verehrer
allein fertig werden! Es macht für mich überhaupt keinen Unterschied, ob sie lebt oder tot ist.
Aber es machte einen Unterschied. Einen idiotischen, unvernünftigen, unerklärbaren Unterschied.
Weil eine Schwester in Südamerika etwas anderes ist als eine tote Schwester, dachte Lisa.
In den naßkalten, grauen Januartagen des neuen Jahres
ging es ihrem Vater immer schlechter. Ohnehin nur noch ein Schatten seiner selbst, magerte er nun weiter ab. Hohlwangig und hohläugig lag er in seinem Bett. Meist fehlte ihm die Kraft, sich bis ins Bad zu schleppen, dann mußte ihn Lisa im Bett mit einem Lappen waschen und ihm sein Essen – warme Babynahrung aus Gläsern – mit einem Löffel füttern. Oft genug behielt er die klägliche Mahlzeit nicht bei sich. Manchmal kam Lisa nicht rechtzeitig, um ihm den Kopf zu halten, dann erbrach er sich über Kissen und Decken, und sie mußte ihn in den Sessel schaffen, um das Bett frisch beziehen zu können. In solchen Dingen war Benno eine segensreiche Hilfe gewesen, und oft genug sehnte sie ihn zurück, aber dann dachte sie an das Geld und wußte, daß es ohne ihn gehen mußte.
Früher hatte sie ihren Vater während all der Hilfeleistungen, die sie trotz Bennos Anwesenheit noch selbst hatte ausführen müssen, insgeheim und ohne schlechtes Gewissen gehaßt. Sie hatte es ihm persönlich übelgenommen, daß er krank geworden war, hatte sein Gejammer verachtet, sein Stöhnen und Seufzen, sein Sich-gehen-Lassen. Und hatte Pläne geschmiedet, ganz für sich, für die Zeit danach. Jeden Tag war ihr etwas eingefallen. Das Leben sollte sie entschädigen für die verlorenen, verdüsterten Jahre.
Lisa wußte, daß sie einen entscheidenden Trumpf besaß: ihr Aussehen. Die Dorfjungen hatten schon immer begehrlich hinter ihr hergeschaut, aber auch die »richtigen« Männer wandten die Köpfe nach ihr um, wenn sie, was selten genug geschah, nach München fuhr und in Minirock und Stöckelschuhen die Straße entlangging. Aber neben der Schönheit stellte natürlich auch ihre Jugend ihr Kapital dar, und diese war ein höchst vergänglicher Faktor. Deshalb hatte sie manchmal gedacht: Wenn er schon stirbt, dann dauert das hoffentlich nicht mehr so lange.
Sonst bin ich ja alt und grau, und kein Mann sieht mich mehr an.
Alt und grau zu sein begann für Lisa spätestens mit dem dreißigsten Lebensjahr, und sie war nun immerhin schon zweiundzwanzig.
Doch das hatte sich mit Annas Tod verändert: Sie fieberte nicht mehr auf das Ende des Vaters hin, im Gegenteil, sie hatte Angst davor. Der Optimismus, mit dem sie in die Zukunft gesehen hatte, war Furcht und Beklemmung gewichen. Und einer harten, realistischen Einschätzung ihrer Situation: Sie hatte nichts, wenn Vater nicht mehr lebte. Keinen Menschen mehr. Kein Geld. Keinen Beruf. Ihr würde nur das Haus bleiben, aber auf dem lag eine Hypothek, von der sie keine Ahnung hatte, wie sie sie abbezahlen sollte. Sie würde verkaufen müssen, und nach Begleichung der Schulden würde ihr nur ein lächerlich geringer Betrag bleiben.
In den letzten Januartagen erhielt Lisa schließlich einen Anruf, der ihr unerwarteterweise ein paar Informationen über ihre Schwester zuspielte. Das Telefon klingelte, als sie ihrem im Bett sitzenden, vom Brechreiz geschüttelten Vater die Zähne putzte. Er konnte kaum das Wasserglas zum Mund führen, spuckte kraftlos in die Schüssel, die sie ihm hielt. Zahnpastaschaum und Blut durchsetzten das Wasser … Sein Zahnfleisch war überall entzündet, platzte auf unter den Borsten der Bürste.
»Du mußt eine weichere kaufen«, murmelte er.
»Das ist die weichste, die es gibt. Tut mir leid, wenn sie dir weh getan hat.«
Sie stellte die Schüssel weg und lief in den Flur, wo das Telefon schon zum achtenmal schrillte.
»Heldauer«, meldete sie sich.
»Frederica Hofer«, meldete sich eine fröhliche Frauenstimme. »Ist Anna zufällig zu sprechen?«
Lisa schluckte. »Nein.«
»Oder wissen Sie, wo ich sie erreichen kann?«
»Wer spricht denn da?«
»Ich bin eine Bekannte von Anna. Wir haben uns vor einem Jahr in Spanien im Urlaub kennengelernt. Ich wollte mich jetzt einfach wieder einmal bei ihr melden.«
In Spanien! Vor einem Jahr war Anna in Spanien gewesen. Nicht in Südamerika.
»Sie hat Ihnen diese Nummer hier gegeben?« wollte Lisa wissen.
Die Frau am anderen Ende der Leitung wirkte nun etwas irritiert.
»Ja. Stimmt etwas nicht? Ist das nicht die Nummer von Anna Heldauer?«
Lisa räusperte sich. »Anna … meine
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