Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
drehte sie sich zu ihm um: »Was ist denn geschehen?«
»Der Dominikaner, den der Prior schickte, um dich zu holen, hat nichts gesagt«, erwiderte Tayeb. »Aber ich befürchte das Allerschlimmste ...«
Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und griff entschlossen nach ihren Kleidern. Dass Tayeb ihren nackten Körper sah, schien sie nicht zu stören. »Wo ist Caedmon?«
»Er erwartet dich mit dem Dominikaner in der Bibliothek«, erwiderte Tayeb. »Er war schon früh auf und hat den Frater empfangen. Caedmon hat mich gebeten, dich zu wecken, offenbar weil er vermutet, dass Niketas die Nacht in deinem Bett verbracht hat. Ich glaube, er wollte euch nicht in Verlegenheit bringen. Er verehrt Niketas wie eine Ikone ...«
Alessandra nickte. »Lass die Pferde satteln, Tayeb!« Er wollte gerade den Raum verlassen, als ich ihn aufhielt: »Warte, Tayeb! Ich werde euch begleiten!«
»Wie du willst!«, nickte er und verschwand.
Nachdem wir uns angekleidet hatten, stiegen wir die Treppe hinunter zur Bibliothek, wo Alessandras Sekretär und der Dominikaner auf uns warteten. Der Mönch berichtete, der sonst so beherrschte Fra Antonino habe Tränen in den Augen gehabt, als er ihn bat, zum Palazzo d'Ascoli zu eilen. Er hatte jedoch keine Ahnung, was im Kloster vorgefallen war.
Zutiefst beunruhigt ritten wir nach San Marco, wo die Mönche noch die Prim beteten. Doch die Pforte stand offen, und wir betraten den Kreuzgang.
Der Prior erwartete uns in seiner Zelle.
Mit ausgebreiteten Armen lag er auf dem Steinboden und betete. Tränen rannen über sein Gesicht. Als wir eintraten, bekreuzigte er sich und stand auf. Nachdem er mich begrüßt hatte, umarmte er Alessandra. »Mein liebes Kind, es tut mir so leid«, murmelte er. »Zuerst dein Vater und nun ...«
»Was ist passiert?«, fragte sie erschrocken.
»Serafino ist tot.«
»Nein!«, hauchte Alessandra mit tonloser Stimme, taumelte im Sturm der Gefühle und hielt sich an mir fest.
Ich schloss meine Arme um sie und gab ihr Halt.
»Ich bin untröstlich, mein Kind! Ich weiß, was ihr füreinander empfunden habt«, beteuerte der Prior. »Heute früh ist Serafino nicht zur Laudes in der Kirche erschienen. Ich habe ihn in seiner Zelle gesucht, aber er war nicht dort. Sein Bett war noch unberührt, als habe er letzte Nacht nicht darin geschlafen. Ich weiß, dass Serafino so manche Nacht in der Bibliothek verbracht hat, um dort die Werke von Thomas von Aquino zu studieren oder Bücher herauszusuchen, die er dem Papst bringen wollte. Ich fand ihn in der Bibliothek. Sofort habe ich einen Boten zu dir und Seiner Heiligkeit geschickt. Du weißt, wie sehr er sich um ihn be...«
»Ich will ihn sehen«, verlangte Alessandra mit erstickter Stimme.
»Das halte ich für keine gute Idee! Serafino ist ermordet worden. Er liegt in seinem Blut und ...«
»Ich will ihn sehen!« Sie rang mit den Tränen.
»Also gut«, gab der Prior nach.
Er führte uns zur Bibliothek auf der anderen Seite des Kreuzgangs, zog einen Schlüssel hervor und schloss das Portal auf.
Serafino lag zwischen den Lesepulten am Ende des großen, dreischiffigen Bibliothekssaals. Mit ausgebreiteten Armen starrte er zur Decke empor, und sein blutgetränkter Dominikanerhabit mit den weiten Ärmeln gemahnte an das wehende Gewand eines Engels.
Mit tränennassem Gesicht warf sich Alessandra neben ihn auf den Boden, schloss ihm die Augen und umarmte seinen kalten, totenstarren Körper.
Tayeb kniete neben ihr nieder, um sie zu trösten. »... schwarze Mönch ... letzte Nacht ... San Marco«, flüsterte er so leise, dass ich ihn gerade noch verstehen konnte. »... nach dem verborgenen Evangelium ... die Bibliothek ... Serafino ... überrascht ... Assassino ermordete ihn und floh.«
Sie nickte traurig. »Erinnerst du dich ... Geräusch mit dem Brecheisen ... hätten das Evangelium irgendwo im Kloster verstecken können - nicht nur in der Kirche ... Der Mönch vermutete es in der Bibliothek ...«
Alessandra strich Serafino zärtlich über das Gesicht und küsste ihn auf die Stirn.
Fra Antonino, der uns still beobachtet hatte, zog mich auf die Seite. »Wisst Ihr, wie Alessandra und Serafino zueinander standen?«
»Ich weiß nur, dass sie eng befreundet waren.«
Er nickte bedächtig. »Serafino war ein Findelkind aus dem Ospedale degli Innocenti, dem Hospiz der unschuldigen Kinder gegenüber der Kirche Santissima Annunziata. Er war nur wenige Stunden alt, als er zu den Innocenti kam. Wer seine Eltern waren, hat er nie
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