Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
weil er etwas haben wollte, das ich besaß. Solange er es nicht in Händen hielt, blieb ich am Leben. Was jedoch mit mir geschah, wenn ich ihm das Evangelium übergab, stand auf einem anderen Blatt. Ein Inquisitionsprozess wegen Häresie war schnell inszeniert ... ein Scheiterhaufen rasch entzündet ...
Fra Mariano reichte mir das schmale Bändchen, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Ihr hattet Fra Elia um ein Buch gebeten. Lucas Lieblingsbuch. Euer Vater hat oft darin gelesen. Sehr oft.«
Fra Mariano schien Luca wirklich gut gekannt zu haben. Doch durfte ich ihm vertrauen?
Nachdem der Prior mich verlassen hatte, um zur Mitternachtsmesse in die Kirche zu eilen, zog ich mir die Decke über den Kopf und schlief, todmüde wie ich war, bald wieder ein. Ich erwachte erst, als die Glocken zur Laudes läuteten.
Nach dem Morgengebet brachte mir Fra Elia einen Holzteller mit Oliven, Brot und Ziegenkäse und blieb eine Weile bei mir, während ich aß. Ich fragte ihn nach Vitelleschi. Doch der Kardinal war noch nicht nach Rom zurückgekehrt.
Den Tag verbrachte ich lesend - was sollte ich sonst tun?
Bis zur Abenddämmerung hatte ich Senecas Bändchen beendet, und als Fra Mariano mich nach dem Vespergottesdienst besuchte, bat ich ihn um ein weiteres Buch. Er zögerte zuerst, doch dann gab er nach und lieh mir eines seiner Bücher - einen dicken Folianten mit Schriften von Thomas von Aquino, dem großen dominikanischen Kirchenlehrer. Die Seitenränder hatte er mit endlosen Kommentaren in winziger Handschrift versehen. Bei seinem Besuch am nächsten Morgen bat ich um Feder, Tinte und Pergament für meine eigenen Anmerkungen. Kurz darauf brachte er mir das Gewünschte.
Mit einem triumphierenden Lächeln verfasste ich eine Nachricht an Prospero und faltete das Pergament.
Dann schob ich den schweren Abtritteimer vor das hochgelegene Fenster und stieg hinauf. Mit dem ausgestreckten Arm konnte ich gerade eben die Gitterstäbe erreichen. Also schleppte ich den Eimer zurück in seine Ecke, zog die dünne Strohmatratze von der Pritsche, zerrte das Bettgestell vor das Fenster und lehnte es so schräg gegen die Wand, dass die gespannten Seile oberhalb der Lattenhölzer eine Leiter bildeten.
Ich nahm die Nachricht an Prospero und kletterte zum Fenster hinauf, um einen Blick in die Gasse unter mir zu werfen. In einiger Entfernung spielten Kinder mit einem Lederball. Doch sie waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie mich nicht hören würden, wenn ich sie rief.
Von der anderen Seite rumpelte ein Eselskarren mit Körben voller Obst und Gemüse über das unebene Pflaster der Straße - vermutlich auf dem Weg zum Markt auf dem Campo dei Fiori.
Plötzlich rutschte das aufgerichtete Bettgestell unter mir weg und krachte mit lautem Getöse auf den Steinboden der Zelle. Im letzten Augenblick konnte ich mich an den Gitterstäben festhalten. Ich sprang hinunter, hielt den Atem an und lauschte. Alles blieb still. Kein Geräusch von Schritten, keine Flüche, kein Schlüsselgerassel. Es war die Zeit der Sext - die Fratres waren zum Stundengebet in der Kirche, die Gefängniswärter hielten Siesta.
Erneut richtete ich das Bettgestell auf, legte mir das Laken über die Schulter und kletterte hinauf, um das Linnen um Bettrahmen und Gitterstäbe zu verknoten. Dann schaute ich aus dem Fenster.
Die spielenden Kinder waren verschwunden. Bis auf zwei vorbeieilende Mönche war die Gasse menschenleer. Die beiden Dominikaner gingen nach links in Richtung Pantheon und wichen einem Krüppel von acht oder neun Jahren aus, der ihnen auf zwei Krücken gestützt entgegenhumpelte, eine kleine Holzschale aus seiner zerrissenen, dreckigen Kleidung zerrte und die Diener Gottes um ein Almosen bat. Vergeblich - einer der Mönche stieß den Jungen derart ungestüm von sich, dass er das Gleichgewicht verlor, rückwärts zu Boden fiel und hart mit dem Kopf aufschlug.
Der Junge richtete sich auf, ballte zornig die Fäuste und bedachte die beiden Bettelmönche mit einem gotteslästerlichen Fluch. Der eine wollte sich schon auf ihn stürzen, um ihn zu verprügeln, als der andere ihn am Ärmel packte und zurückriss.
Der Krüppel sah ihnen nach, bis sie vor dem Pantheon zur Santa Maria sopra Minerva abbogen. Dann steckte er seine Bettelschale ein, stand unter großen Mühen wieder auf und schob die Krücken unter seine Arme. Als er näherkam, sah ich, dass sein rechter Fuß, offenbar nach einem unbehandelten Bruch, gelähmt war.
Er war blass, dünn und
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