Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Hand nach dem ersten Fragment ausstreckte, schloss ich den Deckel wieder.
»Lasst Alessandra hierherbringen!«, forderte ich. »Sobald ich mich davon überzeugt habe, dass sie unverletzt ist, werde ich Euch das Evangelium übergeben.«
»Cesare!«, gab Vitelleschi meinen Befehl weiter. »Holt sie!«
Orsini verließ den Thronsaal, um in die Basilika zu eilen.
»Warum liegt Euch so viel an diesen wertlosen Papyrusfetzen?«, fragte ich Vitelleschi.
Er antwortete nicht.
»Die Worte Jesu unterscheiden sich kaum von den Logien in den kanonischen Evangelien - abgesehen davon, dass sie in Hebräisch niedergeschrieben wurden«, erklärte ich in einem Tonfall, als messe ich der Entdeckung eines fünften Evangeliums keine große Bedeutung bei, weder eine theologische noch eine machtpolitische. »Als Theologe habe ich sehr viel Fantasie, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Ihr Euch vom Besitz dieses Evangeliums versprecht ...«
... zumal ich, wie auch der Papst, den Inhalt der Logien kenne und du sie deshalb nicht fälschen kannst!
»Ihr zweifelt an meiner Aufrichtigkeit, nicht wahr?«, fragte ich, als er nicht reagierte.
»Ja, das tue ich«, presste er hervor.
»Fra Mariano, sprecht Ihr Hebräisch?«
»Ja, Euer Eminenz.«
Ich winkte ihn zu mir, öffnete die Rosenholzkassette und legte einen Papyrusfetzen neben mir auf den Tisch. »Würdet Ihr Seiner Eminenz bitte dieses Logion übersetzen?«
Fra Mariano beugte sich tief über den Tisch - er schien sehr kurzsichtig zu sein. »›An ihrem Handeln werdet ihr sie erkennen.‹«
Vitelleschi starrte mich schweigend an.
Er hatte erwartet, dass ich mich ihm unterwarf, dass ich zu ihm in den Vatikan kam und ihm ohne das Wissen des Papstes das Evangelium übergab, um Alessandras Leben zu retten.
Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, dass er den Machtkampf zwischen uns beiden verloren hatte.
Das hebräische Evangelium war für ihn wertlos geworden, denn er konnte es nun nicht mehr fälschen. Und zudem fragte er sich, augenscheinlich sehr beunruhigt, ob der Papst wusste, dass er Alessandra in der Engelsburg gefangen gehalten hatte, und ob er ihn dafür zur Rechenschaft ziehen würde.
Cesare führte Alessandra und Angelo in den Saal. Sie trug ein weißes Gewand, das einem Dominikanerhabit glich, nur ohne Skapulier. Du lieber Himmel! Was war mit ihrem Haar geschehen? Der Junge war verletzt und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht. War er gefoltert worden?
Vitelleschi, der offenbar meinen Zorn fürchtete, wich vor mir zurück, als ich ihr entgegeneilte, um sie zu umarmen.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren!«, flüsterte ich.
»Ich hatte solche Angst um dich, mein Liebster!« Zärtlich strich sie mir über das Haar.
Meine Lippen fanden die ihren, und wir küssten uns mit aller Leidenschaft. Mit diesem Kuss bekannte ich mich zu unserer Liebe - zum ersten Mal vor aller Welt.
Ich nahm Alessandras Hand und führte sie zum Tisch, wo Vitelleschi auf uns wartete.
»Alessandra wurde nicht gefoltert!«, beteuerte er angesichts ihrer abgeschnittenen Haare und der Verletzung des Jungen.
»Dann muss ich meine Hände nicht mit Eurem Blut beschmutzen«, erklärte ich kaltblütig. »Giovanni, ich warne Euch: Fordert mich nie wieder heraus!« Er wollte etwas erwidern, doch ich trat so dicht an ihn heran, dass nur er mich verstehen konnte. »Ein guter Rat, den mir mein Vater, Kaiser Manuel, gegeben hat. Bewahrt Haltung, Giovanni, und verliert nun, da Ihr den Kampf verloren habt, nicht auch noch die Selbstbeherrschung! Nicht vor Euren Männern, die Euch beobachten. Und vor allem nicht vor Cesare Orsini, der, wenn ich seinen Blick richtig deute, gerade darüber nachsinnt, wem er die Treue geschworen hat - Euch oder dem Papst.«
Er blickte sich nach seinem Gefolgsmann um und holte tief Luft. »Beweist mir nun, dass Ihr meiner Sanftmut und meiner Vergebung würdig seid!«, befahl ich ihm. »Zeigt mir Eure Loyalität!« Er starrte mich an. »Wie?«
»Verbrennt das Evangelium!«
»Aber ...«
»Vernichtet das Evangelium, das so viel Unglück gebracht hat, so viel Hass, so viel Zorn, so viel Machtgier und so viel Gewalt! Solange es existiert, wird Blut vergossen werden. Und am Ende werdet auch Ihr selbst zu den Opfern zählen!«
Er atmete vernehmlich aus und nickte gefasst.
Tito entzündete eine Kerze und stellte sie auf den Tisch. Dann trat er zurück und beobachtete Vitelleschi, der das erste Fragment zur Hand nahm.
Ich stellte mich neben ihn und wies
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