Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
schwarzweißen Habit, sondern meinen eigenen. Das Manuskript meines Buches über Paulus, das ich Luca zeigen wollte, legte ich neben mich.
Fra Antonino schloss die Bibel und wies auf das Fresko, das die gegenüberliegende Wand des Kapitelsaals einnahm: die Kreuzigung des Christus. »Fra Angelico ist ein begnadeter Künstler!«, schwärmte der Prior mit leuchtenden Augen. Er war sehr stolz auf den Frater, der aus dem Dominikanerkonvent von Fiesole nach Florenz gekommen war. »Wie schön und anmutig er malt! Welch intensive Gefühle der Trauer und der Verzweiflung er seinen Figuren zu geben vermag! Seht nur Maria, die weinend unter dem Kreuz zusammenbricht und von Magdalena aufgefangen wird! Und die Heiligen, die den Gekreuzigten anbeten!«
Ich nickte stumm, wich seinem Blick aus und betrachtete das Fresko, das Fra Angelico mit unendlicher Sorgfalt erschuf. Es hieß, er habe nie einen Gekreuzigten gemalt, ohne zu weinen. Welch tiefer Glaube erfüllte ihn! Ich beneidete Fra Angelico.
Basilios hatte Recht, als er mir in Ferrara ins Gewissen redete: »Das Wissen ist der Feind des Glaubens. Und die Gelehrsamkeit ist das Fundament des Zweifels.«
Fra Antonino beobachtete mich schweigend aus dem Augenwinkel.
Nach unserer Ankunft in Florenz vor drei Wochen hatte Cosimo einen festlichen Empfang im Palazzo Medici-Bardi für mich gegeben - auf meinen ausdrücklichen Wunsch nicht mit den Prioren, der Regierung von Florenz, im Palazzo della Signoria. Stattdessen hatte ich mit Cosimos Freunden und seiner Familie zu Abend gespeist. Dabei lernte ich auch seine Gemahlin Lotta de' Bardi kennen, die in Florenz nur La Contessina genannt wurde.
Am nächsten Morgen hatte ich Cosimos Zelle in San Marco bezogen und mich als einfacher Mönch dem Prior Fra Antonino unterstellt. In San Marco war ich nicht der Metropolit und Erzbischof von Athen, nicht der Exarchos von Griechenland, sondern nur Bruder Niketas. Ich hatte mich der dominikanischen Ordensregel unterworfen, nahm an den lateinischen Messen teil, hielt die Stundengebete und schrieb in der freien Zeit an meinem Buch über Paulus.
Fra Antonino mochte um die fünfzig sein - er war so alt wie sein Freund Cosimo. Der Prior von San Marco, ein bescheidener und frommer Mönch, war ein Seelsorger, der sich meiner Bitte entsprechend auf die orthodoxe Art der Beichte eingelassen hatte: das offene Gespräch mit dem Beichtvater, ohne Beichtstuhl, ohne Kniefall.
Nach unseren Gesprächen während der Spaziergänge durch das verschneite Florenz wusste er, dass ich um eine schwere Entscheidung rang. Ich hatte ihm anvertraut, dass ich meine Ämter niederlegen und mich bis zu meinem Tod ins Kloster zurückziehen wolle, und er hatte mir geholfen, die Traurigkeit und die Verzweiflung zu überwinden und in der Selbstbesinnung die Gelassenheit wiederzuerlangen. Zum ersten Mal seit Natanaels niederschmetternder Diagnose empfand ich während der einsamen Momente in meiner Klosterzelle wieder eine stille Freude. Ein Gefühl von Seelenfrieden, von Herzensruhe und Glückseligkeit.
Ja, ich war glücklich in San Marco - so glücklich, dass ich in den vergangenen Wochen sogar mein Heimweh nach meinem geliebten Kloster vergessen konnte. Und meine Sehnsucht nach Marias zärtlichen Liebkosungen. Würde ich sie vor meinem Tod noch einmal Wiedersehen? Ich hoffte es, denn ich wollte ihr gestehen, dass ich zur Einsicht gekommen war: Kein Mensch kann ohne Liebe leben, ohne Zärtlichkeit und ohne Geborgenheit. Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, heilt alles, verzeiht alles.
Würde Maria mir vergeben?
»Pater Prior, in aller Demut erbitte ich Eure Erlaubnis, das Kloster verlassen zu dürfen. Ich will mich erkundigen, ob Luca aus Neapel zurückgekehrt ist.«
»Bruder Niketas, Ihr müsst mich nicht um Erlaubnis bitten wie die anderen Fratres«, lächelte der Prior gütig. »Es steht Euch frei zu kommen und zu gehen, wie es Euch beliebt.«
Ich neigte den Kopf. »Evcharistó.«
»Hat Vittorino, der Leiter von Lucas Scriptorium, Euch wissen lassen, dass Luca aus Neapel zurückgekehrt ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte ihn darum gebeten, aber bisher hat er mir keine Nachricht gesandt.«
»Ich weiß, wie gern Ihr mit Luca über Euer Dilemma sprechen wollt«, murmelte der Prior so leise, dass Fra Angelico, der ganz in seine Arbeit versunken war, ihn nicht verstehen konnte. »Ich bin zwar Euer Beichtvater, doch als ehemaliger Dominikanermönch kann Luca Euch viel besser als ich raten, was Ihr
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