Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
ich die Bibliothek, einen Saal, dessen Wände bis unter die hohe Decke mit Bücherregalen verstellt waren. Auf langen Tischen und Lesepulten stapelten sich weitere Folianten, nach Fachgebieten geordnet. Keines der Bücher war angekettet, wie es sonst in Bibliotheken üblich war.
Florentiner Gelehrte arbeiteten an den Pulten, blätterten durch die Codices, lasen, studierten, übersetzten oder machten sich Notizen. Kunden stöberten in den Regalen und auf den Tischen - Professoren in langen Talaren, Mitglieder der florentinischen Nobiltà, ein Dominikaner aus der päpstlichen Klosterresidenz Santa Maria Novella und ein Mönch in einem schwarzen Habit, ganz ähnlich meinem eigenen. Obwohl ich wegen der hochgeschlagenen Kapuze des Skapuliers sein Gesicht nicht sehen konnte, kam er mir bekannt vor. War ich ihm auf einem meiner Spaziergänge mit Fra Antonino begegnet? Oder hatte ich ihn in dieser Bibliothek gesehen?
Lucas Bibliothek war nicht nur ein beliebter Treffpunkt der Gelehrten und der Kardinäle, die hier bei einem Becher Wein über Gott und die Welt disputierten, sondern auch die wichtigste Nachrichtenbörse von Florenz. Sollte die ersehnte Kirchenunion zustande kommen, würde sie in diesen Räumen diskutiert werden, noch bevor das Unionsdekret offiziell an das Portal der Kathedrale genagelt worden war.
Ich fragte einen der Übersetzer des Scriptoriums, ob Luca aus Neapel zurückgekehrt sei. Als ich dem jungen Mann meinen Namen nannte, fiel er auf die Knie und küsste meine Hand. Er heiße Alexios und stamme aus Athen, verriet er mir, als er mich um meinen Segen bat. Vor zwei Jahren sei er nach Florenz gekommen und arbeite seitdem für Luca als griechischer Übersetzer. Da Alexios mir meine Frage nach Luca nicht beantworten konnte, ließ ich mich Vittorino da Verona melden, dem Leiter des Scriptoriums. Er vertrat Luca und dessen Tochter während deren oft wochenlanger Abwesenheit.
»Würdet Ihr Euch einen Moment gedulden, Euer Seligkeit? Es wird nicht lange dauern. Wenn Ihr es wünscht, könnt Ihr in Lucas Arbeitszimmer warten. Dort ist es nicht so kalt wie in der Bibliothek, die wir wegen der Feuergefahr leider nicht beheizen können. Seid Ihr zu Fuß von San Marco gekommen? Dann müsst Ihr in Eurem Mönchshabit ja halb erfroren sein! Wie wäre es mit einem heißen Glühwein?«
Ich dankte ihm, und er geleitete mich die Treppe hinauf in Lucas Arbeitszimmer im zweiten Stock, wo er mir einen bequemen Sessel am Kamin zurechtrückte. Vittorino werde in wenigen Augenblicken kommen, versprach mir Alexios - sobald er Piero de' Medici verabschiedet habe, der sich nach Alessandra erkundigte, die sich seit einigen Wochen in Alexandria aufhalte, um verschollene Handschriften der Bibliotheca Alexandrina zu suchen.
Nachdem Alexios ein prasselndes Kaminfeuer entzündet und das Fenster einen Spaltbreit geöffnet hatte, brachte er mir eine warme Decke, die er fürsorglich über meine Knie breitete, und einen Becher mit Nelken und Honig gewürzten Glühwein. Während ich auf Vittorino wartete, sah ich mich um.
Von diesem Arbeitszimmer aus regierte Luca sein kleines Reich: das Scriptorium mit Illuminatoren, Kalligraphen und Scriptoren - mehr als in einem bedeutenden Kloster! -, einer Gruppe von Übersetzern für Lateinisch, Griechisch, Hebräisch und Arabisch, die große Werkstatt für die Herstellung von feinem Pergament aus Leder und Papier aus Lumpen, für die Bindung der Bücher in Leder, Seide oder Brokat, für das Reiben der Farben für die Buchmalerei. Sogar ein Goldschmied arbeitete für ihn: Er stellte das Blattgold her und verzierte die kostbaren Codices mit Beschlägen aus Silber oder Gold.
Die Bibliothek umfasste mehr als zweitausend Bände. Noch mehr Werke, allerdings noch nicht kopiert, waren in einem Katalog verzeichnet - er enthielt die Inventare sämtlicher großen Bibliotheken Italiens. Sollte ein Kunde eines dieser Bücher wünschen, würde ein Kopist an den entsprechenden Fürstenhof oder in das Kloster reisen, das Buch abschreiben und nach Florenz zurückbringen. Es gab kein Buch, das Luca nicht beschaffen konnte.
Viele der Folianten in der Bibliothek hatten er oder seine Tochter in Klöstern entdeckt und eigenhändig abgeschrieben. Die Codices waren unverkäuflich. Wenn ein Kunde sich für ein Buch interessierte, bestellte er es. Innerhalb weniger Tage wurde es kopiert und nach seinen Wünschen gebunden. Ganze Bibliotheken konnten bei Luca in Auftrag gegeben werden.
In den ersten Jahren hatte
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