Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
fünfjährigen Sohn Natanael, gab mir ein Bett, wo ich schlafen konnte, stillte meinen Hunger und meine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit.
Obwohl ich Jahre später im Kaiserpalast wie ein byzantinischer Prinz aufgewachsen bin, obwohl ich als Metropolit von Athen und Vertrauter des Basileus einer der einflussreichsten Würdenträger des Reiches war, konnte ich niemals vergessen, woher ich einst gekommen war!
Wehmütig schritt ich weiter zum Judenviertel und fand schließlich die Synagoge an einem kleinen Platz. Der Gebetssaal befand sich im dritten Stock eines Wohnhauses, von außen nur durch fünf hohe Fenster zu erkennen. Lediglich eine italienische Inschrift verriet dem Eingeweihten, dass sich hier ein jüdisches Gotteshaus befand.
Bevor ich durch das Portal eintrat, berührte ich die Mesusa, ein kleines silbernes Kästchen, das rechts vom Portal befestigt war. Durch eine kleine Öffnung in der Mesusa sah ich das darin eingefaltete Pergament mit dem Schma Israel: ›Höre Israel: Adonai ist unser Gott, Adonai unser Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.‹
Dann schob ich das Tor auf und stieg die Treppen hinauf zur Synagoge. Im Gebetssaal nahm ich auf einer der Bänke vor dem Tora-Schrein Platz.
Die Traurigkeit und die Hoffnungslosigkeit überwältigten mich wieder - wie vor zwei Stunden, als ich die Ikone Jesu Christi von der Wand meiner Zelle nahm. Ich barg mein Gesicht in beiden Händen.
»Geliebter Vater!«, betete ich. »In den letzten Wochen, seit mein Bruder Natanael mir offenbart hat, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, habe ich nachgedacht. Ich habe mich in die Einsamkeit meiner Zelle verkrochen und mich auf mich selbst besonnen. Ich war allein und war es doch nicht: Denn Du warst die ganze Zeit da! Du hast mich nicht verlassen! Ich war in Dir, und Du warst in mir! Wenn er mit dem Herzen glaubt, findet der Mensch zu sich selbst. Und nur wer sich selbst erkennt, kann Gott schauen!
In der stillen Selbstbetrachtung habe ich den göttlichen Funken in mir gesehen! Du, geliebter Vater, bist in meinem Herzen und in meinem Verstand, wenn ich bete, wenn ich schweige, wenn ich hoffe, wenn ich verzweifle, wenn ich liebe, wenn ich lebe und wenn ich sterbe. Du bist in mir, und ich bin in Dir. Ohne Dich kann ich nicht sein. Ich bin ein untrennbarer Teil von Dir. Denn ich bin Du! Du und ich - wir sind eins!«
Ich seufzte aus tiefstem Herzen.
»Ich bitte Dich, geliebter Vater, sende mir Luca. Du weißt, wie sehr ich mich danach sehne, mich ihm anzuvertrauen! Luca kann mir raten, was ich tun soll. In den letzten Monaten meines Lebens wird er mir ein Trost sein. Ich flehe dich an, Vater, führe Luca zu mir! Lass mich nicht in dem Bewusstsein sterben, dass ich ein von der Kirche verdammtet Irrgläubiger bin. Er wird verstehen, dass mein Glaube keine Häresie ist! Ihm will ich mich mit Herz und Seele anvertrauen!«
Ich erhob mich und verließ die Synagoge. Langsam stieg ich die Treppen hinunter, schob das Portal auf und trat hinaus auf die Piazzetta. Es schneite immer noch.
Ich wollte nach San Marco zurückkehren: Ich brauchte jetzt einen Schluck von Natanaels Wundermittel gegen meine stärker werdenden Kopfschmerzen.
In dem Moment, als ich die Kapuze meines Skapuliers hochschlagen wollte, sah ich ihn. Der schwarze Mönch!
Er hatte den Kopf verhüllt und duckte sich unauffällig in den düsteren Schatten eines schmalen Durchgangs zwischen zwei jüdischen Häusern. Er hatte mich verfolgt und gewartet, bis ich aus der Synagoge kam!
Wer war der geheimnisvolle Frater? Wer hatte ihn geschickt?
Ich wandte mich um und eilte zur Via Calimala, die den Domplatz mit dem Ponte Vecchio verband. Dann bog ich nach links ab und stapfte die verschneite Straße hinauf.
An der Kreuzung zur Via dei Speziali blieb ich vor einem Laden stehen, in dem Schreibfedern, Tintensteine und Papier verkauft wurden. Ich warf einen Blick über meine Schulter.
Da war er! Er folgte mir in fünfzig Schritten Abstand und versuchte, sich im Schneegestöber unsichtbar zu machen. Nun war er an der Via Orsanmichele stehen geblieben.
Obwohl er zu wissen schien, wer ich war, konnte er nicht ahnen, dass ich in den Straßen von Konstantinopolis aufgewachsen war. Ausgelassene Verfolgungsjagden durch die Gassen des Judenviertels und die Suche nach neuen Verstecken waren Natanaels und mein liebstes Vergnügen gewesen.
Ich kannte alle Tricks, meine
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