Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Talmud.«
Er trat einen Schritt näher, um einen Blick darauf zu werfen.
»Wie heißt Ihr, Frater?«
»Fra Serafino. Ich bin der Bibliothekar.«
»Falls Ihr gern ein wenig im Talmud lesen wollt, Bruder Serafino, kann ich ihn Euch gern heute Abend leihen. Wenn Ihr ihn mir morgen früh zurückbringt ...«
»O nein, Euer Seligkeit!« Er wich einen Schritt zurück und hob abwehrend beide Hände. »Das darf ich nicht! Die Kirche verbrennt den Talmud, weil er den Juden heilig ist und der christlichen Lehre widerspricht! Ich war nur neugierig, bitte vergebt mir!«
Ich erinnerte mich, wie Basilios mir in Ferrara ins Gewissen geredet hatte: Das Wissen sei der Feind des Glaubens und die Gelehrsamkeit das Fundament des Zweifels.
»Wissbegier ist keine Sünde, Bruder Serafino«, versicherte ich dem jungen Mönch. »Im Gegenteil: Das Streben nach Wissen ist eine Tugend. Denn wie wollt Ihr als Priester den rechten Glauben verkünden, wenn Ihr nichts darüber wisst?«
Er nickte verunsichert und trat den Rückzug an. »Kann ich noch etwas für Euch tun, Euer Seligkeit?«
»Nein danke, Bruder Serafino«, entließ ich ihn, und er schloss leise die Tür hinter sich.
Ich starrte auf den letzten Satz, den ich geschrieben hatte. ›Und Paulus war der Inquisitor des Hohen Priesters.‹ Dann griff ich erneut zur Feder.
»Im Evangelium lesen wir: ›Paulus verwüstete die Gemeinde. Und er verschleppte sowohl Männer als auch Frauen und warf sie ins Gefängnis.‹ Wenige Zeilen weiter erzählt Lukas: ›Paulus ging zum Hohen Priester und erbat sich von ihm Briefe an die Synagogen in Damaskus, um die Anhänger des Weges gefesselt nach Jerusalem zurückzubringen^ Welches Schicksal diese nazoräischen Gefangenen erwartete, erfahren wir von Paulus selbst: ›Ich ließ die Gläubigen in den Synagogen geißeln. Und wenn sie hingerichtet wurden, so gab ich meine Stimme dazu.‹
Als Inquisitor reiste Paulus durch Judäa und Galiläa und verfolgte die Nazoräer. Paulus war also nicht nur wenige Wochen lang der Vollstrecker des Hohen Priesters, sondern viele Monate. Und er wütete nicht nur in Damaskus, sondern vermutlich auch an all den Orten, wo sich außerhalb von Jerusalem nazoräische Gemeinden gebildet hatten.
Die Bekehrung des Paulus auf der Straße nach Damaskus war die Geburtsstunde des Christentums. In diesem Moment hörte die Lehre des Rabbi Jeschua vom kommenden Gottesreich auf, eine streng jüdisch-orthodoxe Lehre zu sein, und wurde zum christlichen Kult um Jesus Christus. Der Verkünder wurde zum Verkündeten - der gesalbte König zum Gottessohn, zum Weltenherrscher, zum Erlöser. Diese Bekehrung begann jedoch nicht vor den Toren von Damaskus, sondern bereits in Jerusalem, als Paulus sich besann.
Und die wundervolle Erscheinung Jesu Christi vor den Toren von Damaskus?
Es gab keine Vision.
Und es gab keine Bekehrung des Paulus.
Lukas' verschiedene Versionen der Vision vor Damaskus sind nicht in Einklang zu bringen. Und sie widersprechen Paulus' eigener Beschreibung im Galaterbrief, wo er von einer Offenbarung spricht, nicht von einer Vision. Auch in seinen Briefen an die Korinther und die Philipper spielt er auf dieses Ereignis an, doch jedes Mal nur als Rechtfertigung seiner Autorität als Apostel von Gottes Gnaden, die zeit seines Lebens von den Führern in Jerusalem bestritten wurde.
Im Galaterbrief schreibt Paulus: ›Lasst mich euch sagen, Brüder, dass das von mir verkündigte Evangelium nicht von menschlicher Art ist. Denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi in mir.‹ Im ersten Korintherbrief lesen wir: ›Zuletzt aber erschien er auch mir.‹ Erscheinen heißt hier nicht, zu sehen, zu hören, zu fühlen, sondern existenziell zu erfahren - das ist ein innerlicher Prozess. Und laut dem Philipperbrief wurde Paulus ›die unübertreffliche Größe der Erkenntnis Christi‹ zuteil - Erkenntnis heißt auf Griechisch Gnosis.
Paulus hatte keine Vision - er hatte eine Offenbarung, eine Erscheinung des Gottes in sich selbst.
Die Erkenntnis Gottes ist ein innerer, gnostischer Vorgang, den Lukas dramatisch nicht anders inszenieren konnte denn als überwältigende Vision Jesu Christi, als helles Licht und himmlische Stimme, als ein Stürzen und Sicherheben ...«
In Gedanken versunken legte ich die Feder beiseite.
Bin ich nicht in derselben Situation wie Paulus?, fragte ich mich. Auch ich bin gestürzt. Immer wieder haben meine Anfälle mich ohnmächtig zu Boden
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