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Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)

Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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ergreifen. Er stand nicht unter dem Kreuz und weinte um die verloren gegangene Vision von Frieden und Freiheit. Nein, im Gegenteil: Im Auftrag des Hohen Priesters, der ihn an Pontius Pilatus ausgeliefert hat, verfolgte er dessen Anhänger, drang in ihre Häuser ein, nahm sie gefangen, folterte und ermordete sie.
    Und er interessierte sich nicht für den Menschen. Den Rabbi. Den Verkünder der Bergpredigt. Den Propheten vom Königreich der Himmel. Paulus reduziert Jesu Leben auf den kurzen Augenblick seines qualvollen Sterbens. Seinen Tod deutet er als das Sühneopfer eines Gottessohnes. Das ist hellenistischer Mysterienkult!
    ›Seht her, ihr Korinther und Galater, selbst ich, ein strenggläubiger Pharisäer, konnte nicht anders, als an Jesus Christus, den von Gott gesandten Messias, den Gottessohn, den Erlöser der Welt, zu glauben!‹ - das, und nichts anderes, will Paulus sagen, wenn er sich selbst als Pharisäer bezeichnet. ›Und welch eine wunderbare Offenbarung war nötig, um mich zu bekehren, den orthodoxen Gläubigen. Hört, ihr Epheser und Römer, die Wahrheit, die ich euch verkünde! Glaubt mir: Ich lüge nicht!‹
    Aber genau das tat er. Immer wieder.«

    Noch ganz in meine Erinnerungen an Natanaels Rede versunken, starrte ich traurig auf die Figur des Gekreuzigten vor mir an der Wand meiner Zelle. Sein Gottvertrauen, sein Hoffen, sein Bangen, sein Zweifeln, sein Leiden, sein ganzes Leben war auf den Augenblick seines Todes reduziert. Angesichts meines eigenen Sterbens empfand ich die Verherrlichung von Jesu Tod am Kreuz als ihm gegenüber ungerecht.
    Natanael hatte mich gewarnt, dass der nächste schwere Anfall mein Leben beenden konnte. Ich hatte keine Angst vor dem Tod. Doch ich fürchtete, nicht in Würde sterben zu können und in der Stunde meines Todes nicht mehr der vollendete Mensch zu sein, der zu werden ich mich mein Leben lang bemüht hatte.
    Denn wie würde ich aus dieser Welt scheiden? Ich würde helle Lichtfunken sehen, ein Gefühl der Schwäche und der Ohnmacht empfinden, furchtbare Schmerzen erleiden, stürzen und mich wie unter Qualen auf dem Boden winden ... die Augen weit aufgerissen ... die Lippen zu einem stummen Schrei geöffnet ... Endlich käme die Erlösung: Ich würde ruhig werden, mein Lebenslicht würde still verlöschen und ins Nichts verwehen.
    Welch eine Demütigung!
    Und welch eine Ungerechtigkeit, wenn mein langer Aufstieg aus den verfallenen Ruinen des Armenviertels, wo ich als Kind mit den Ratten um ein Stück trockenes Brot stritt, durch Rabbi Avirams bescheidenes Haus, durch Kaiser Manuels prächtigen Palast bis in die höchsten Ämter der orthodoxen Kirche mit einem Sturz endete. Wenn mein Denken, mein Fühlen, mein Hoffen, mein Sehnen, mein Glaube, mein ganzes Leben nach diesem letzten Sturz beurteilt würde! Als gerechte Strafe Gottes für meine Selbstüberhebung aus den Schatten der Unwissenheit ins strahlend helle Licht der gnostischen Erkenntnis.
    Ich starrte auf das Wort, das ich zuletzt geschrieben hatte:
    ›... eine Lüge.‹
    Nein, mein Leben soll nicht in einer Lüge enden!, dachte ich. Ich kann kein Priester mehr sein. Sobald das Konzil beendet ist, werde ich abdanken, mich in die Stille meines Klosters zurückziehen und mein eigenes Evangelium beginnen. Auch wenn ich es vielleicht niemals vollenden kann, bevor mir der Tod die Feder aus der Hand nimmt.

    Ein leises Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Selbstversunkenheit.
    Ein junger Dominikanermönch trat ein und blieb respektvoll an den Stufen zum hinteren Teil der Zelle stehen. »Bitte verzeiht, Euer Se... Bruder Niketas. Ich weiß, Ihr wolltet bis zur Mitternachtsmesse nicht gestört werden. Aber Ihr habt Besuch. Seine Exzellenz, der Bannerträger der Republik, ist gekommen.«
    Ich nickte. »Ich werde ihn empfangen.«
    Der Frater wich zur Seite und ließ Cosimo eintreten. Dann zog er sich zurück.
    »Wie schön, Euch zu sehen, Exzellenz!«, begrüßte ich ihn. »Was führt Euch nach San Marco?«
    Cosimo trug ein langes schwarzgoldenes Brokatgewand mit Hermelinpelz an Stehkragen und Ärmeln. Er war gerade erst angekommen - die dicken Schneeflocken auf seinen Schultern waren noch nicht geschmolzen.
    »Ich wollte nach Euch sehen, Euer Seligkeit.« Er wirkte erschöpft. Die Vorbereitungen für das Konzil und für den Empfang des Papstes in drei Tagen nahmen ihn sehr in Anspruch. »Als ich vorhin meinen Schreibtisch vor dem prasselnden Kaminfeuer verließ und im dichten Schneegestöber auf mein Pferd

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