Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
geworfen. Auch ich ringe darum, mich zu besinnen, woran ich noch glauben kann, um mich wieder erheben zu können und einem neuen Weg zu folgen. Einem Weg, der weder christlich noch jüdisch ist.
Ja, hier im Kloster von Florenz ergeht es mir wie Paulus in der Wüste von Damaskus! Wie er denke ich darüber nach, woher ich komme und wohin ich nun gehen will. Wie er sehe ich Gott in mir. Wie er fühle ich mich inspiriert. Schließlich schrieb ich weiter:
»Wie kam Paulus zu dieser überwältigenden Erkenntnis? Durch das Zerplatzen eines Lebenstraums, durch Glaubenszweifel und Verwirrung, durch die Frage nach Verantwortung und Schuld am eigenen Handeln.
Paulus litt unter einer furchtbaren inneren Zerrissenheit. War er nach Jerusalem gegangen, um sich bei Gamaliel zum Studium der Tora zu bewerben? War er von einem der größten Lehrer seiner Zeit abgelehnt worden? Hatte er sich zornig und enttäuscht von den Pharisäern abgewandt, um in die Dienste des sadduzäischen Hohen Priesters zu treten, um, wenn nicht als respektierter pharisäischer Rabbi, so doch wenigstens als gefürchteter Inquisitor Karriere zu machen?
Paulus litt unter der Schuld für die Verfolgung, die Folterung und den Tod von frommen nazoräischen Gläubigen. Sein Gewissen quälte ihn. Er war ruhelos. Seine Selbstbeherrschung und seine Selbstachtung litten. In Jerusalem zweifelte er, und in Damaskus brach er endgültig zusammen.
Paulus' Offenbarung, die Erkenntnis Gottes in sich selbst, geschah gewiss nicht in einem wundervollen Augenblick auf der Straße nach Damaskus! Die Überwindung seiner Lebenskrise war ein quälender Prozess des Selbsthasses, des Zweifelns und Verzweifelns, der Suche nach Vergebung der begangenen Sünden und Erlösung. Und was Paulus in den drei Jahren des Rückzugs in die Wüste fand, war der funkelnde Kristallisationspunkt seiner Schuld, aber auch seiner Hoffnung: Jesus Christus, der sich selbst opfernde Gottessohn, der Heiler, der Sündenvergeber, der Erlöser.
Im Galaterbrief schreibt Paulus, ›dass Gott seinen Sohn in ihm offenbarte‹. Paulus machte sich selbst nicht nur zum Apostel, sondern auch zum Hohen Priester des Glaubens an den Erlösergott Jesus Christus.
Die Besinnung des Menschen auf sich selbst und damit auf Gott und das unablässige Ringen um geistliche Vollendung ist keine einfache Sache des Denkens, des Zweifelns und des Glaubens, sondern ein die Seele erschütterndes existenzielles Ereignis.«
Gedankenverloren steckte ich die Feder ins Tintenfass und wischte meine geschwärzten Finger an einem Tuch ab.
In der Wüste hat Paulus drei Jahre gebraucht, um sich zu besinnen, und ich selbst ringe seit fast zwei Jahren mit mir, seit Natanaels Rückkehr aus Jerusalem.
Am Ende bin ich weder Christ noch Jude, sondern Gnostiker. Kein Rabbi, obwohl Natanael mich, wie vor ihm sein Vater, die Tora und den Talmud zu lesen gelehrt hat. Kein Priester, kein Erzbischof, kein Metropolit, kein Nachfolger des todkranken Patriarchen. Sondern nur ein Häretiker, der alles, was ihm einst etwas bedeutete, hinter sich gelassen hat, um sich zu dem zu bekennen, was er in sich erkannt hat und für wahr und richtig hält.
Mit brennendem Herzen beendete ich das Kapitel über Paulus' Offenbarung, wie ich auch ein Kapitel meines eigenen Lebens vollendet hatte. An diesem Tag - es war der ersehnte Tag von Lucas Rückkehr nach Florenz, doch das wusste ich noch nicht! - wollte ich ein neues beginnen.
Das letzte meines Lebens.
Kapitel 11
Im Galopp rasten Tayeb und ich über die verschneite Straße den bewaldeten Hügel hinab. Seit unserem Aufbruch von Cosimos Landgut im Mugello bei Sonnenaufgang waren zwei Stunden vergangen.
Völlig entkräftet waren wir lange nach Mitternacht angekommen. Hätte ich mich in dieser Hügellandschaft nördlich von Florenz nicht mit Tayeb auf unsere Reise nach Timbuktu vorbereitet, hätte ich die Torturen des Rittes von Ferrara nach Florenz in nur drei Tagen niemals durchgestanden. Nachdem wir vorgestern den Tross des Papstes überholt hatten, waren wir so schnell geritten, dass wir inzwischen mindestens einen Tag Vorsprung hatten.
Im ersten Tageslicht waren wir wieder in die Sättel gestiegen, um noch vor Mittag Florenz zu erreichen. Unsere Pferde und das Maultier mit unserem Gepäck hatten wir zurückgelassen. Nur die Fragmente des Evangeliums trug ich bei mir. Einer von Cosimos Dienern würde die erschöpften Tiere nach Florenz bringen, sobald sie sich von dem Gewaltritt erholt hatten.
Wir
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