Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Angst.
Mit derselben Kraft, mit der ich in Alexandria die Tür zur Genisa der versunkenen Synagoge aufgestoßen hatte, trat ich nun gegen das dröhnende Bronzetor. Endlich wurde auf der anderen Seite der Riegel zurückgeschoben, und das Portal öffnete sich einen Spaltbreit. Floriano steckte den Kopf heraus. Dann erkannte er mich: »Dio mio! Alessandra? Ich dachte ... ich dachte, Ihr wärt in Ägypten ...«
Ächzend schob er das Tor auf und trat zur Seite, damit Tayeb unsere Pferde in den Innenhof führen konnte.
»Floriano, was ist hier los?«, fragte ich mit Blick hinauf zu den dunklen Fenstern des Scriptoriums im ersten Stock. Kein Kerzenschein! Wurde heute nicht gearbeitet? Ich wandte mich zu ihm um. »Wieso ist das Tor geschlossen?«
Floriano wich meinem Blick aus und sah zu Boden.
O Gott!, dachte ich entsetzt. Was ist mit Luca?
Ich ließ ihn stehen und stürmte die Treppe empor in den ersten Stock. Die Tür zur Bibliothek war geschlossen. Das Scriptorium lag verlassen vor mir. Wo waren denn alle?
»Luca?«, rief ich.
Totenstille.
Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich rannte den Gang hinunter. »Luca!«
Aus der Kapelle drangen Stimmen. »Luca?«
In dem Augenblick, als ich die Tür der Kapelle aufreißen wollte, kam mir Vittorino entgegen. Offenbar hatte er mein Rufen gehört. »Alessandra! Gott sei Dank, Ihr seid zurück!«
»Wo ist mein Vater?« Schon wollte ich mich an ihm vorbeidrängen, um die Kapelle zu betreten, da hielt er mich am Arm zurück.
»Er ist da drin. Es tut mir sehr leid.«
Ich dachte, mein Herz bliebe stehen. »Was ist geschehen?«
Alexios erschien in der Tür der Kapelle. Im Licht der Altarkerzen erkannte ich hinter ihm Tito Romano, Nicolas, Leonardo, Orlando und Gian Luca.
»Luca ist ...« Vittorino holte tief Luft. »Alessandra, Euer Vater wurde heute Nacht ermordet. Luca ist tot!«
Ich stand wie erstarrt und wehrte mich nicht, als Tayeb mich umarmte und festhielt. »Es tut mir leid, Alessandra!«, flüsterte er immer wieder. »Es tut mir so leid!«
Luca ist tot! Der Vater, um dessen Liebe ich so viele Jahre gekämpft habe, ist mir fortgerissen worden! Ich bin jetzt ganz allein ...
Schließlich wandte ich mich den anderen zu. »Ich will ihn sehen!«
Alexios wich zur Seite, damit ich die Kapelle betreten konnte.
In der Mitte des freskengeschmückten Raumes mit Mosaikboden und goldverzierter Kassettendecke war zwischen Altar und Chorgestühl ein Katafalk errichtet worden, den ein Tuch bedeckte. Am Kopfende brannten etliche hohe Altarkerzen und tauchten den Raum in ein düsteres Licht.
Tito presste ein Wappen an seine Brust, das er offenbar gerade am Katafalk befestigen wollte. Dieses Familienwappen hatte Papst Gregor vor vielen Jahren seinem Sekretär und Vertrauten Luca d’Ascoli verliehen, als er ihn zum mächtigen Erzbischof von Florenz ernennen wollte. Ganz ähnlich dem geflügelten San-Marco-Löwen von Venedig zeigte es den König der Tiere, der das aufgeschlagene Evangelium beschützt.
Luca war vor dem Altar aufgebahrt, vor dem er so oft auf dem kalten Marmorboden gelegen hatte. Die Hände waren über der Brust gefaltet. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen ein wenig geöffnet, als ob er eingeschlafen wäre.
Sie hatten ihn entkleidet, gewaschen und gesalbt. Sie hatten die vernarbten Geißelwunden auf seinem Rücken gesehen, die Wunden, die mir ebenso große Qualen bereitet hatten wie ihm: Luca hatte sich gezüchtigt, als Strafe dafür, dass er eine Nacht seines Lebens schwach gewesen war. Dass er sich nicht hatte beherrschen können. Dass er die Liebe, die Lust, die Leidenschaft genossen hatte. Dass er sich Adriana hingegeben und mich gezeugt hatte. Ich erinnerte mich, wie er sich nach unserer Flucht vor den Häschern der Inquisition selbst gepeinigt hatte. Auf dem kalten Steinboden liegend hatte er sich blutig gegeißelt. Niemals würde ich seinen gequälten Blick vergessen, als er sich umwandte und mich, seine kleine Tochter, in der offenen Tür bemerkte ...
Vittorino und die anderen hatten Luca in ein scharlachrotes Gewand mit Hermelinbesatz an Kragen und Ärmeln gekleidet. Selbstverständlich hatten sie ihm nicht seinen Dominikanerhabit übergezogen: Er war ja kein Priester mehr. Und zudem hatte Eugenius ihn exkommuniziert.
Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Nulla salus extra ecclesiam - kein Heil außerhalb der Kirche.
Lucas Seele war verdammt!
Ich ergriff seine kalte Hand, um sie in meiner zu wärmen - vergeblich. Die Totenstarre
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