Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Kerze bis zur Schulter hindurch und spähte in den Raum dahinter. Das Licht der Kerze blendete mich. Aber dort, an der gegenüberliegenden Wand, waren das nicht ...
»Tonkrüge zur Aufbewahrung antiker Schriften!«, rief ich. »Die Genisa ist noch unberührt!«
Mühsam rang ich meine Ungeduld nieder, zog den Schleier vom Gesicht und schnupperte. Hoffentlich hatte sich kein Schimmel auf dem Papyrus gebildet!
Tayeb und ich brachen die Lehmziegel aus der Wand und warfen sie in den Gang. Dann krochen wir nacheinander in die Kammer.
Muscheln ragten aus dem Sand. Die Flutwelle war bis in die Genisa geströmt. Fußspuren führten von der Tür zu den Tonkrügen an der gegenüberliegenden Wand. Wie alt mochten die Sandalenabdrücke sein?
Ich blinzelte empor zur gewölbten Decke, deren Gewicht auf den Quadersteinen der eingestürzten Wand gegenüber dem Eingang ruhte. Unter dem Druck des Flugsandes waren einige der Gewölbesteine gerissen. Sie drohten herabzustürzen und das gesamte Gewölbe mit sich zu reißen. Wir durften nicht länger als nötig in der Genisa bleiben!
Die Steinquader der geborstenen Wand hatten mehrere Tonkrüge zertrümmert, deren Scherben auf dem Boden verteilt lagen. Zahlreiche Rinnsale aus feinem Sand hatten sich in die Kammer ergossen. Und dazwischen, im Staub verborgen ...
»Papyrus!«, flüsterte Tayeb.
Ich kniete mich vor die zwei Ellen hohen Tonkrüge.
Tayeb entzündete mehrere Kerzen und hockte sich neben mich. »Die Gefäße ähneln der Amphore, die uns der jüdische Antiquitätenhändler im Souk angeboten hat. Du weißt schon: der Tonkrug, der angeblich aus der antiken Stadt Oxyrhynchos stammte.«
Ich zog einen der Tonkrüge zu mir heran. »Dieses Gefäß ist noch versiegelt!« Mit meinem Dolch hebelte ich den mit Wachs verschlossenen Deckel auf. Dann drehte ich die Amphore um und ließ den Inhalt in meinen Schoß gleiten. Ein in Leder gebundener und verschnürter Codex! Noch unversehrt! Außerdem rieselten die Reste eines Papyrus aus dem Tonkrug.
Ganz behutsam schlug ich das Buch auf, um die ersten Zeilen zu lesen. Der Text war in griechischer Schrift auf das Pergament gepinselt worden. Tayeb hob seine Kerze, damit ich lesen konnte.
»Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, des Sohnes Gottes.« Mein Blick flog über die nächsten Zeilen. »Das ist das griechische Markus-Evangelium.«
»Ein christliches Evangelium in einer jüdischen Synagoge?«
»Markus predigte in den Synagogen von Alexandria«, murmelte ich und starrte gedankenverloren auf den Pergamentcodex in meinen Händen, auf die Papyrusfasern aus dem Krug und auf die mit Lehmziegeln verschlossene Tür der Genisa. »Der Codex stammt nicht aus dem ersten Jahrhundert, sondern ist später, im dritten oder vierten Jahrhundert, abgeschrieben worden.«
Die Papyrusrollen, die oft etliche Ellen lang waren, waren am Ende des ersten Jahrhunderts durch die handlicheren Codices ersetzt worden. Die von den Christen verwendete Bibel bestand aus vielen Schriftrollen und war sehr umständlich zu benutzen. Ein Codex war praktischer zu lesen, problemloser zu transportieren und während einer Christenverfolgung leichter zu verstecken. Dieser Pergamentcodex war vermutlich im vierten Jahrhundert verfasst worden. Und er steckte in einem Tongefäß, das Reste einer viel älteren Papyrusrolle enthielt.
Erneut irrte mein Blick zu den Lehmziegeln am Eingang der Kammer. Warum versteckte ein Christ ein von der Kirche anerkanntes Evangelium in der Genisa einer verlassenen Synagoge? Wieso versiegelte er die Kammer mit Lehmziegeln? Warum musste alles so schnell gehen, dass nicht genug Zeit blieb, eine Mauer aus Steinquadern zu errichten, die das Versteck schützte?
Die Tonkrüge mussten noch etwas anderes enthalten! Werke, die die Kirchenväter nach der Festlegung des Bibelkanons als häretisch verdammten. Das Evangelium des Basilides, der geschrieben hatte, dass Jesus nicht am Kreuz gestorben war? Das Thomas-Evangelium Das Judas-Evangelium? Alle diese häretischen Texte waren im Lauf der Jahrhunderte verschollen. »Alessandra?«
Und wenn sie nun in dieser Genisa versteckt worden waren, um sie vor der Vernichtung zu bewahren? Sollten die Schriften später, wenn die Gefahr der Verfolgung vorüber war, an einen anderen Ort gebracht werden?
»Alessandra! War da nicht ein Geräusch?« Tayeb wandte sich zum Eingang der Kammer um.
»Ich habe nichts gehört.«
»Du würdest im Augenblick nicht einmal mitbekommen, wenn die Synagoge hinter dir
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