Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
zu sich in den Himmel holte.«
»Ihr habt Euch als Jude gefühlt.«
Hatte mein Geständnis sie unangenehm berührt? Wohl nicht, denn ich sah nur Mitgefühl in ihrem Blick.
»Ich war ein Jude, und war es doch nicht. Mein Vater hatte mich nicht beschneiden lassen, denn er wollte mir die Entscheidung überlassen, ob ich zum Judentum konvertieren wollte oder nicht. Er wusste ja nicht, wer meine Eltern gewesen waren. Vielleicht war ich ja ein getaufter Christ? Wie auch immer: Aviram beschloss, dass ich mich bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr, dem Alter der Bar-Mizwa, entscheiden sollte, ob ich ein Jude werden wollte.«
»Ihr lächelt, wenn Ihr Euch an Eure Kindheit erinnert«, bemerkte Alessandra.
»Ja, damals war ich glücklich«, gestand ich. »Vier unbeschwerte Jahre lebte ich in Avirams Haus. Natanael und ich genossen die Freiheit, die unser Vater, der viel beschäftigte Rabbi, uns gewährte. Wir tobten ausgelassen durch die Stadt und hatten nur Unsinn im Kopf.«
»Kann ich mir vorstellen! Sich als Judenkind in die erste Reihe der Karfreitagsprozession des Basileus, des Stellvertreters Christi auf Erden, zu drängen ist ... bitte verzeiht mir!« Sie lächelte verschmitzt. »Das klingt, als wärt Ihr ein richtiger Lausbub gewesen, Euer Seligkeit!«
»Das war ich!«, versicherte ich ihr mit einem Grinsen. »Die schlimmsten Streiche, die Ihr Euch vorstellen könnt, habe ich begangen. Und wenn ich es nicht selbst gemacht habe, dann habe ich Natanael dazu angestiftet. Die Geschichte mit den Kirschen aus den Gärten des Kaisers erspare ich Euch.«
»Ihr habt dem Basileus Kirschen stibitzt?«, lachte sie und winkte lässig ab. »Ich war der Schrecken des Vatikans! Die Mitglieder der päpstlichen Kommission, die über Wunder und Heiligsprechungen zu entscheiden hatten, fürchteten jeden meiner Besuche. Ich habe meinen Vater immer zu den Audienzen bei Papst Martin begleitet.
Der spektakulärste meiner Streiche waren die blutenden Stigmata auf einer Marmorstatue des heiligen Dominikus. Zwei Kardinäle und der Prior von Santa Maria sopra Minerva beschäftigten sich zwei Tage lang mit diesem vermeintlichen Wunder, bis sie am Ende herausfanden, dass das heilige Blut Messwein aus der Sakristei von San Pietro war.«
Ihr Lachen war ansteckend.
»Schockiert?«
»Nicht im Geringsten!«
»Mein Vater, der ehemalige Dominikaner, war schockiert. Die Kardinäle Giordano Orsini und Gabriel Condulmer, der heutige Papst Eugenius, haben sich furchtbar aufgeregt. Papst Martin ließ Gnade vor Recht ergehen und hat mich nicht bestraft. Er wusste, warum ich mir unter allen Heiligen ausgerechnet Domingo de Guzmán, den Gründer des Dominikanerordens, ausgesucht hatte. Und wieso die blutigen Stigmata aussahen wie die Wunden nach einer Folterung durch die Inquisition.« Sie war plötzlich sehr ernst.
Was hatte sie Furchtbares erlitten, dass sie nicht anders konnte, als blutige Rache an der Statue des heiligen Dominikus zu nehmen? Ihr Vater war der ›Richter Gottes‹, ihr Großvater Condottiere der Kirche, ihr Cousin Prospero Kardinal und dessen Onkel Pontifex maximus. Die römische Kirche war fest in der Hand der Colonna gewesen. Sie konnte der Kirche nicht entkommen - nur immer wieder an den Gitterstäben ihres goldenen Käfigs rütteln, die Unterwerfung verweigern, die Regeln missachten und damit am Ende die Exkommunikation riskieren ... um der ersehnten Freiheit willen ...
»Mit meinem Sturz vor der Hagia Sophia veränderte sich mein ganzes Leben«, fuhr ich fort. »Nach meiner Genesung ließ Manuel mich taufen. Der Basileus war mein Pate und nahm mich an wie einen eigenen Sohn. Ioannis bereitete sich auf seine Ehe mit Anna vor, der Tochter des Moskauer Großfürsten. Manuels jüngere Söhne Theodor, Andronikos und Konstantin lebten weit entfernt in Mistra oder Thessaloniki - ich habe sie erst später kennengelernt. Nur Demetrios, der so alt war wie ich, und das dreijährige Nesthäkchen Thomas wohnten im Palast. Mit ihnen bin ich aufgewachsen.«
»Und inzwischen ist Ioannis Kaiser von Byzanz, und sein Bruder Konstantin herrscht als Regent, solange der Basileus in Italien weilt. Theodor, Demetrios und Thomas sind Könige in Griechenland. Und Andronikos?«
»Er regierte in Thessaloniki, bis er vor einigen Jahren abdankte und sich als Mönch ins Basilianerkloster zurückzog, dessen Abt ich heute bin. Vor zehn Jahren starb er während eines Status epilepticus. Bei seinen letzten Anfällen hielt ich ihn, wie Ihr mich heute Nacht
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