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Der vergessene Strand

Der vergessene Strand

Titel: Der vergessene Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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ihrer Hüfte, seinen Atem in ihrem Nacken, wenn er nachts an sie geschmiegt schlief.
    Aber ganz und gar? Das Leben mit ihm teilen, das Kind eines anderen Mannes mit ihm gemeinsam aufziehen, für immer nach Pembroke ziehen?
    Aber ehe sie darüber nachdenken konnte, galt es, ein paar andere Fragen zu klären.
     
    «Ich will ihn kennenlernen.»
    Es hatte sie Überwindung gekostet, zu Jonathan zu fahren. Zum dritten Mal hatte sie das Gefühl, wie eine unwillkommene Bittstellerin vor ihm zu stehen. Und das, nachdem sie sich gerade erst geschworen hatte, nie wieder ein Wort mit ihm zu reden.
    Das war wohl dieses Blut, dicker als Wasser. Und sie war vielleicht gar nicht so unnachgiebig, wie sie es sich wünschte.
    Jonathan jedenfalls musterte sie erstaunt. «Wen?», fragte er nach einer langen Pause.
    «Patrick. Meinen Bruder», fügte sie hinzu, als wüsste Jonathan nicht ganz genau, wer Patrick war.
    «Amy.» Er seufzte. «Komm erst mal rein. Ich mach dir einen Kakao und …»
    «Nein! Ich komm nicht rein, ich trink keinen Kakao, ich bin kein kleines Kind mehr! Ich will endlich wissen, wer ich bin. Woher ich komme. Warum niemand mit mir spricht, wieso ihr alle so … so …»
    Er machte eine hilflose Handbewegung. «Ich würde es dir gern erklären», sagte er leise. «Aber es ist nicht leicht. Bitte. Du bekommst Antworten. Nur …» Sein Blick ging über ihre Schulter hinweg in weite Ferne. Seine blauen Augen wirkten unnatürlich hell und strahlend. Er runzelte die Stirn.
    «Heute?», fragte sie. «Ich darf noch heute zu ihm?»
    «Ja.» Sie spürte sein Nachgeben beinahe körperlich. Als habe sie seinen Widerstand niedergerannt. «Aber erst der Kakao. Bitte, Amy.»
    «Also gut.»
    Sie saßen in der Küche beisammen. Die heiße Schokolade mit Sprühsahnehaube tat ihr gut, denn sie fröstelte, obwohl der Sommer nach Wales gekommen war. Jonathan stand irgendwann auf. Er verschwand im Wohnzimmer, und sie vermutete, dass er dort wieder nach einem Fotoalbum suchte.
    Amelie wartete. Sie war müde. Die Tage waren einsam und zu lang für sie.
    Als Jonathan zurückkam, legte er zwei Alben zwischen sie auf den Tisch. «Da», sagte er. «Darin findest du auch Patrick.»
    Amelie zog das obere Album zu sich heran. Ihr brannten so viele Fragen auf dem Herzen. Warum hatte ihr niemand von ihrem Bruder erzählt? Wie alt war er? Älter, vermutete sie. Warum war er nicht mit ihrer Mutter und ihr zurück nach Deutschland gegangen, nachdem ihre Eltern sich getrennt hatten? War er bei ihrem Vater aufgewachsen? Und was machte er heute? Wer war er?
    Am wichtigsten aber, und immer wieder war da diese eine Frage: Was war damals passiert?
    Das Album enthielt viele Fotos, manche lagen sogar lose zwischen den Seiten, von denen Amelie vermutete, dass Jonathan sie aus einem anderen Album entfernt hatte, ehe er es ihr gab. Familienfotos – glückliche Kinder, zuerst ihr Bruder, später sie mit dem Bruder neben sich, der als staunender Zweijähriger auf sie schaute. Mit jeder neuen Seite, jedem neuen Foto wuchsen beide Kinder heran, bis Amelie knapp fünf war und Patrick sieben. Sie sah ihn an seinem ersten Tag im Kindergarten, bei Kindergeburtstagen, verkleidet als Indianer, während sie auf kurzen Beinen und mit Cowboyhut hinter ihm herlief. Erinnerungen, die sie nicht fassen konnte. Erinnerungen, die sie allesamt vergessen hatte.
    «Wir sehen glücklich aus», sagte sie leise.
    «Ein Herz und eine Seele wart ihr. Die besten Freunde, seit dem Tag, an dem deine Mutter mit dir aus der Klinik kam. Wir haben immer gescherzt, dass du ihm überallhin nachlaufen würdest …» Er schob das zweite Album herüber. Es enthielt Fotos der Familie. Hatte das erste vor allem Patrick und sie gemeinsam gezeigt, sah man sie jetzt mit den Eltern, Jonathan und anderen Leuten, die Amelie nicht kannte. Sie blätterte nachdenklich. Das alles, diese verblassten, rotstichigen Fotos, waren Teil ihrer Vergangenheit, und nichts davon berührte sie irgendwie. Das hier war ihr fremd. Nicht mal ein Funke Erinnerung kam auf.
    «Aber wieso weiß ich von alledem nichts mehr?», flüsterte sie. Auf den Fotos sah ihre Mutter so jung und glücklich aus. Zugleich fast verletzlich, als müsse sie für dieses Glück kämpfen. Aber vielleicht bildete Amelie sich das auch nur ein, weil sie unbedingt glauben wollte, dass ein dramatisches Schicksal die Familie zerrissen hatte.
    «Glaub mir. Es ist besser für dich. Dass du hast vergessen dürfen.»
    «Wer ist das?» Sie tippte auf ein

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