Der vergessene Strand
meinem Kühlschrank gewesen, und ich muss morgen wieder los. Kam etwas plötzlich, aber wir haben eine Drehgenehmigung für die Verbotene Stadt bekommen. Die darf ich mir nicht entgehen lassen.»
«Peking?» Amelie folgte ihr in die Küche. Sie stellte den Karton auf der Anrichte ab. Felicity schaute sich suchend um, in der einen Hand zwei Porreestangen, in der anderen ein Bund Möhren. Amelie zeigte stumm auf den Kühlschrank.
«Der Wahnsinn, darauf habe ich zweieinhalb Jahre gewartet. Ich hab gedacht, das wird nie was, aber gestern früh kam der Anruf. Also muss ich wieder los.» Sie räumte den leeren Kühlschrank ein. Amelie reichte ihr Milchtüten, Fruchtjoghurts und Eier an. «So, das sieht schon besser aus. Danke, dass du mich von all den Sachen erlöst. Ich schmeiß ungern was weg, und Dan will das Zeug nicht, er hat seine eigenen Sachen. Und seinen eigenen Kopf.» Sie lachte, und Amelie konnte nicht anders: Ihr gefiel dieses Lachen, es war so fröhlich und voller Wärme.
«Hast du etwas Zeit?», hörte sie sich sagen. «Viel hab ich ja nicht …» Sie schaute in den Karton mit den Trockenvorräten und entdeckte eine Packung mit Fertigkuchen, die sie mit einem Lächeln hervorzog. «Magst du den?»
«Mh, ja!» Felicity lachte wieder. «Wenn’s dazu noch Kaffee gibt, nehm ich mir die Stunde. Trevor – mein Kameramann – kümmert sich im Moment um den bürokratischen Kleinscheiß. Viel kann er ohnehin nicht tun, sonntags erreicht man niemanden. Wir müssen hoffen, dass morgen alles irgendwie klappt.»
Sie setzten sich auf der Terrasse mit Blick auf die Steilküste in die beiden Deckchairs, die Jonathan in stundenlanger Kleinarbeit abgeschliffen und dunkelblau lackiert hatte. Für Blau hatte er wirklich was übrig. In diesem Fall passte es auch perfekt. Zum Kuchen gab es Kaffee, schwarz und stark.
«Versprichst du mir was?», fragte Felicity, nachdem sie eine Weile einfach nur schweigend beisammengesessen und die Wärme genossen hatten.
«Mh?» Amelie war in Gedanken weit weg gewesen. Bei ihrem Bruder, um genau zu sein.
Ihrem unbekannten Bruder.
«Passt du auf meinen Dan auf, solange ich nicht hier bin?»
«Ich glaub, er kann ganz gut allein auf sich aufpassen», erwiderte Amelie leise.
«Das ist mir schon klar. Mir wäre aber wohler, wenn er nicht ganz so allein ist. Er bleibt gern für sich, wenn ich nicht da bin und ihn ein bisschen aufscheuche.»
Dazu sagte Amelie lieber nichts. Ginge es nach ihr, hätte sie gern weiterhin bei Dan gewohnt. Oder sogar auf ihn aufgepasst, wie seine Frau das nannte. Aber ihr fehlte der Mut, um Felicity zu gestehen, dass sie so ziemlich die Falscheste war, um auf ihren Mann zu achten.
«Schade, dass du nicht mal einen Abend rübergekommen bist. Ich hätte dich gern besser kennengelernt. Aber du bleibst bis zum Herbst?»
Amelie nickte. «Wahrscheinlich.»
«Dann sehen wir uns bestimmt noch mal wieder.» Felicity schaute auf ihre Armbanduhr. «Und jetzt muss ich leider schon wieder los, nach London. Vorher gebe ich noch meine Schlüssel bei der Nachbarin ab, die während meiner Abwesenheit die Katze versorgt. Schon bekloppt, sich eine Katze zuzulegen. Aber sie maunzt so niedlich, wenn ich heimkomme.»
Amelie begleitete Felicity zur Vorderseite des Hauses. Dort umarmte Felicity sie. «Pass auf ihn auf», flüsterte Felicity, und ihr Lächeln war ein bisschen zittrig. Ein Riss in der Fassade der blonden, erfolgreichen Fernsehjournalistin, die fürchtete, ihr Mann könne mit einer kleinen, grauen Historikermaus fremdgehen, während sie eine Dokumentation über die Verbotene Stadt drehte? Auch die Superfrauen dieser Welt hatten sicher ihre Ängste, dachte Amelie. Und sie versicherte, sie werde aufpassen, ganz bestimmt. Dabei fühlte sie sich richtig mies, denn ginge es nach ihr, würde sie am liebsten vergessen, dass es Felicity gab. Eine ihr unbekannte Ehefrau zu hintergehen wäre sicher einfacher gewesen, auch wenn sie dann keinen Deut besser als Sabina gewesen wäre.
Aber sie verstand auf einmal, warum man so etwas wollen könnte. Warum eine Frau jedes moralische Argument beiseitewischte.
So weit ist es also mit mir gekommen, dachte sie betrübt, als sie der davonfahrenden Felicity zum Abschied winkte. Ich überlege mir, wie ich einer anderen Frau den Mann ausspannen kann.
Dabei wusste sie doch nicht einmal, ob Dan das überhaupt wollte.
Und ob sie Dan wirklich wollte, wusste sie auch nicht. Also schon, dass sie seine Nähe spüren wollte, seine Hand auf
Weitere Kostenlose Bücher