Der vergessene Strand
aber. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich in Ruhe lassen.»
Sie hob hilflos die Arme. «Aber warum? Was habe ich Ihnen getan?»
Ganz kurz wirkte Bowden verunsichert, dann verblüfft, doch ebenso schnell verschwand dieses kleine bisschen Weichheit aus seiner Miene, und er starrte sie undurchdringlich an. «Wenn Sie das nicht wissen, kann ich Ihnen auch nicht helfen.»
«Ich würde es aber gern verstehen. Was habe ich Ihnen getan?»
Einen Moment lang glaubte sie, er werde es ihr sagen. Er machte den Mund auf, klappte ihn aber sofort wieder zu und schüttelte den Kopf. «Ach», machte er, drehte sich um und ließ sie stehen.
Sie wagte nicht, ihm nachzulaufen, denn sie wusste nicht, was sie noch tun sollte. Und wieso eigentlich?
Sie sollte sich einfach damit abfinden, dass er nichts für sie tun konnte. Ende der Geschichte.
Als sie zur Apotheke zurückkam, standen die beiden alten Frauen noch vor dem Schaufenster. Sie steckten die Köpfe zusammen. Amelie lächelte flüchtig, senkte den Kopf und wollte in der Apotheke verschwinden.
«Er meint’s nicht so.»
Erstaunt drehte sie sich um. Die ältere der beiden, mit eisengrauen Minilöckchen und wunderschönen blauen Augen, lächelte verhalten.
«Wie bitte?»
«Dass er so ist, das müssten Sie doch eigentlich verstehen.»
Sprach da etwa gerade eine Einheimische mit ihr? Offenbar stammte diese alte Frau nicht aus Pembroke. Was bewog sie sonst, das Wort an Amelie zu richten?
«Ich verstehe es leider nicht», erwiderte sie ruhig, obwohl sie alles andere als ruhig war. «Erklären Sie es mir?»
Die Alte zögerte.
«Sehen Sie. Keiner sagt mir, warum ich hier mit so viel … Feindschaft konfrontiert werde. Da ist Mr. Bowden nicht der Erste, und wenn ich heute nicht abreisen würde, bliebe er auch nicht der Letzte. Sie mögen mich nicht, schön. Aber ich hätte eben gern gewusst, welches Verbrechens ich mich schuldig gemacht habe, dass ich diese Behandlung offensichtlich verdiene.»
Amelie ging in die Apotheke. Keine der beiden Frauen folgte ihr.
Dan war sofort bei ihr, als sie hereinkam. Er hielt in beiden Händen orangefarbene Sunblockertuben, die überall im Verkaufsraum verstreut lagen. «Ist dir was passiert?», fragte er besorgt.
Amelie schüttelte nur den Kopf. Stumm bückte sie sich und begann, die Tuben und Flaschen einzusammeln und im Regal einzusortieren. «Es tut mir leid», sagte sie leise, und er antwortete nicht. Dafür war sie ihm dankbar.
«Wissen Sie wirklich nicht, was passiert ist?»
Amelie richtete sich auf. Die ältere Dame stand hinter ihr, über dem Arm hing ihre schwarze Handtasche, und Amelie fiel plötzlich auf, dass diese würdevolle, alte Dame eine frappierende Ähnlichkeit mit der Queen hatte.
Amelie drückte Dan die Tuben in die Hand. «Nein, ich weiß gar nichts», erwiderte sie.
«Ach, Kindchen.» Sie schüttelte das Haupt, dass die Löckchen flogen. «Ich glaube, du wirst mit mir jetzt erst mal einen Tee trinken gehen. Und dann erzähle ich dir, warum der alte Jon dich anstarrt, als wärst du eine Erscheinung.»
Amelie hatte keine Chance. Miss Fenwick – «nenn mich Ruthie, Liebes» – entführte sie ohne Umschweife in ein kleines Café, das schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lag. Das Café war plüschig, mit grünen Wänden und Stühlen, die mit ebenso jadegrünem Samt gepolstert waren. Die Tischchen waren winzig klein und rund, und ebenso klein und rund war die Bedienung, die Miss Fenwick sofort erkannte und zu ihrem Lieblingsplatz in einer Fensternische führte. Keine drei Minuten später standen zwei Becher Tee vor ihnen, und Miss Fenwick, die unablässig geplappert hatte, auf angenehme Weise, aber ohne irgendetwas zu sagen, faltete danach feierlich die Hände auf dem Tisch.
«Du weißt gar nichts, Kindchen?»
Amelie schüttelte den Kopf. Die Leute hier, das begriff sie allmählich, hatten ihr eigenes Tempo, ihre eigene Dramaturgie. Wenn man aus Berlin kam, war das verwirrend – dort sagte man meist sehr direkt, was man sagen wollte.
«Das ist bedauerlich.»
Sie wartete. Ihre Füße wippten unruhig unter dem Tischchen, und als Miss Fenwick es bemerkte, runzelte sie die Stirn. Amelie bemühte sich, ruhig zu bleiben.
«Was weißt du über deine Familie, Kindchen?»
Das ist vermutlich wieder so ein Versuch, hintenrum ans Ziel zu kommen, dachte Amelie, aber sie ließ sich darauf ein.
«Meine Mutter lebt in Berlin. Über meinen Vater weiß ich nicht viel, er hat sich wohl früh aus dem
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