Der vergessene Strand
wehzutun. Und ich wollte wissen, wer mein Vater ist. Ich dachte, es sei mein gutes Recht, das zu erfahren.»
Wenn sie jetzt nach Hause kam, würde sie ihrer Mutter jedenfalls einige Fragen stellen müssen.
«Und Susan?»
Er sagte Susan, nicht Susanne oder Susel. Es dauerte einen Moment, ehe Amelie begriff, dass ihre Mutter gemeint war.
Amelie zuckte mit den Schultern. «Sie meinte, dass sie nicht wüsste, wo er ist. Geschweige denn, ob er überhaupt noch lebt. Mehr wollte sie nicht sagen.»
Jonathan schwieg so lange, dass Amelie schließlich nachhakte: «Und? Lebt er noch?»
«Ja und nein.»
«Erzählst du mir von ihm?»
Jonathan stand auf. «Nein. Er würde es nicht wollen.»
Das klang so endgültig, dass er Amelie jedes bisschen Mut nahm, nachzuhaken.
Trotzdem versuchte sie es. «Aber …»
«Nein.» Er knallte den Becher in die Spüle, und sie zuckte zusammen. «Lass ihn in Ruhe. Du kannst mir Fragen stellen, meinetwegen auch Susan, aber ihn lässt du in Ruhe. Er hat genug durchgemacht.»
«Okay», sagte sie kleinlaut. Obwohl es natürlich nicht okay war. Gerade weil sie schon bald selbst ein Kind bekam, das vielleicht ohne Vater aufwuchs, war die Frage nach ihrem Vater plötzlich drängend. Noch viel mehr als damals vor einem halben Leben, als sie ihrer Mutter mit ihren Fragen den letzten Nerv geraubt hatte.
«Warte hier.» Jonathan verschwand durch die zweite Tür. Dahinter sah sie ein Sofa und zwei Sessel. Einen offenen Kamin. Bücherregale. Es sah urgemütlich aus, und sie wäre ihm gern gefolgt.
Er kam wieder. «Hier.» In den Händen hielt er einen Bilderrahmen. «Das hier … Vielleicht möchtest du es haben.»
Er reichte ihr das Foto. Eine Schwarzweißaufnahme. Ihre Mutter war darauf jung und wunderschön. So fröhlich hatte Amelie sie nie gesehen. Der Mann neben ihr war eine jüngere, viel jüngere Ausgabe von Jonathan mit hellen Augen und einem Lächeln, das zu dem Betrachter zu sprechen schien: Sieh her, wir sind glücklich.
Sie standen am Strand. Hinter ihnen hoben sich steil die Dünen in den Himmel. Der Fotograf hatte vielleicht am Boden gekniet oder war nicht besonders groß. Und vor ihrer Mutter und ihrem Vater stand Amelie – sie war vielleicht drei oder vier.
Die Eltern hatten den Arm umeinandergelegt, Amelies Vater hatte die Hand auf ihrer Schulter. Er rief dem Fotograf etwas zu – Amelie glaubte fast, seine Stimme zu hören.
«Ist er das?»
«Das ist David.»
«Er sieht sehr glücklich aus.»
Jonathan nickte grimmig. Seine Zähne malmten, als müsse er sich eine Bemerkung verkneifen. Schließlich erklärte er: «Wird wohl so gewesen sein.»
«Ich hab immer gedacht, das mit meiner Mutter und ihm sei ein flüchtiges Abenteuer gewesen. Dass er gar nichts von mir wusste.» Ihre Finger fuhren behutsam über die drei Menschen auf dem Foto. «Aber wir waren ja eine richtige Familie.»
Als sie das Foto zurückgeben wollte, wehrte Jonathan ab. «Behalt es. Ich hab mich daran sattgesehen.»
Amelie bezweifelte, dass man sich an so einem glücklichen Foto sattsehen konnte, doch er blickte sie jetzt so finster an, dass sie sich wieder an die erste Begegnung vor wenigen Tagen erinnert fühlte, als er sie vom Hof gejagt hatte wie eine streunende Katze.
«Danke.» Schüchtern steckte sie den Bilderrahmen in ihre Umhängetasche. «Weißt du, wo der Strand auf dem Foto ist?»
Schwerfällig erhob Jonathan sich. Er ging schweigend wieder ins Wohnzimmer, sie hörte ihn kramen. Hatte er ihre Frage falsch verstanden? Doch dann stand er wieder in der Küche, eine alte, grüne und völlig zerfledderte Karte in der Hand. «Führt ein schöner Wanderweg hin», erklärte er. «Kannst ja mal dorthin mit deinem Anzugschnösel, der da draußen im Regen wartet.»
Amelie beugte sich vor, um aus dem Küchenfenster zu schauen. Es regnete tatsächlich – dicke, schwere Tropfen prasselten auf ihr Auto und Michael nieder, der mit hochgezogenen Schultern immer noch danebenstand und finster zum Haus herüberstarrte.
«Er wollte nicht mit reinkommen.»
«Den hätte ich auch nicht reingelassen.»
Da war er wieder, der brummige und griesgrämige Alte. Und sie hatte fast angefangen, ihn zu mögen.
«Er ist Professor», sagte sie. Gerade so, als müsste sie ihn verteidigen.
«Sag ich doch. Anzugschnösel.»
Irgendwie hatten sie den Gesprächsfaden verloren. Sie sollte wohl gehen.
Aber eine Frage hatte sie noch.
«Ich hab dir doch erzählt, dass ich auch Historikerin bin. Und … Als ich vor ein
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