Der vergessene Strand
waren da noch so viele Lücken.
Den Zettel verstaute sie in ihrem Taschenbegleiter. Dann stellte sie die Kiste zurück. Später, dachte sie. Irgendwann würde sie zurückkommen und dann hoffentlich mehr Antworten als Fragen haben.
Unten rüttelte sie noch einmal an der Schlafzimmertür. Nichts. Oder war das zweite Zimmer oben früher ein Schlafzimmer gewesen, und hinter dieser Tür lag nur eine Abstellkammer? Vielleicht konnte sie von außen durch das Fenster hineinschauen.
Sie umrundete das Haus noch einmal, doch viel verriet ihr der Blick durch das blinde Fenster nicht. Ein Doppelbett, ein wuchtiger Schrank, mehr war unter den weißen Laken nicht zu erkennen.
Was sollte sie nur mit diesem Haus anfangen? Jonathan hatte gesagt, es gehöre ihr. Und früher oder später durfte sie ohnehin damit machen, was sie wollte.
Ihre Hoffnung, hier vielleicht einen Unterschlupf zu finden, hatte sich jedenfalls zerschlagen. Zu viel Arbeit, zu viele Kosten waren damit verbunden – alle Räume einer Grundreinigung unterziehen, vermutlich alle Wände neu streichen, teilweise Möbel und Matratzen ersetzen. Und winterfest war das Haus auch nicht, das hatte Jonathan ja gesagt.
Später, beschloss sie. Das war ein Problem, dem sie sich später stellen konnte.
Erst mal musste sie sich wieder ihren vernachlässigten Lambtonschwestern widmen. Sie wollte ihrem Verleger schreiben und ihm ihre Probleme schildern.
Beim abendlichen Telefonat mit Michael spürte Amelie plötzlich, dass er ihr fehlte. Und sie sagte es ihm auch.
«Ich vermisse es, stundenlang mit dir am Küchentisch über wissenschaftliche Einzelfragen zu diskutieren.»
Sie hatte ihm einige Passagen aus Frannys Tagebüchern vorgelesen. Einträge, bei denen sie nicht sicher war, ob sie sich auf Anne bezogen.
Früher war’s leichter, da wusste ich, wem ich diene. Die Herrin war gut zu mir, und sie hat mich reich beschenkt zum Abschied.
Amelie wollte diesen Teil in das Buch übernehmen, weil er Anne in ihren Augen sehr gut charakterisierte. Sie war großzügig, immer darauf bedacht, dass es allen Menschen in ihrer Umgebung gutging. Es passte zu Anne, für ein junges Mädchen zu sorgen, das nicht einmal ein ganzes Jahr in ihren Diensten gestanden hatte.
Für Michael waren die Hinweise zu dürftig, und sie hatten die letzten zehn Minuten hitzig diskutiert. Nicht gestritten, sondern sich eines dieser wohltuenden Wortgefechte geliefert, von denen beide profitierten. Amelie wusste, dass Michael ihre Entscheidung respektieren würde. Wenn sie den Satz als Beleg für Annes Güte mit aufnehmen wollte, wäre das für ihn absolut okay.
«Ich vermisse dich auch», hörte sie ihn jetzt sagen, und ihr wurde ganz eng in der Brust vor lauter Liebe. Wie hatten sie sich nur so jämmerlich überwerfen können? Eine Affäre, ein Fehltritt – etwas, das seit Monaten vorbei war. Und sie konnte es immer noch nicht loslassen, immer wieder kreisten ihre Gedanken darum.
«Komm zurück, Amelie.» Michaels Stimme klang gepresst. «Bitte. Wir kriegen das irgendwie hin, ja? Bisher haben wir doch immer noch alles geschafft.»
Dazu schwieg sie, denn egal, was sie hätte erwidern können, es hätte vorwurfsvoll geklungen.
«Ich weiß», sagte er leise. «Ich hab da ziemlich großen Mist gebaut.»
«Ja.» Tiefes Durchatmen auf beiden Seiten. «Das hast du wohl.» Und als ihr sein Schweigen zu lang wurde, fügte sie hinzu: «Ich hab heute Morgen meiner Mutter erzählt, dass sie Oma wird.»
«Hat sie sich gefreut?»
«Ich glaub schon …» Amelie runzelte die Stirn. Nein, eigentlich war ihr von dem Gespräch nur im Gedächtnis geblieben, wie aufgebracht ihre Mutter gewesen war, weil sie zu viele Fragen stellte. Weil sie mehr über Pembroke wissen wollte.
«Vielleicht muss sie sich erst an den Gedanken gewöhnen, bald Großmutter zu werden. Das ist für sie bestimmt ein einschneidendes Ereignis. Du weißt schon, als die Berufsjugendliche, die sie ist. Wir könnten ihr flache beigefarbene Schuhe zum Geburtstag schenken», schlug Michael vor.
Amelie musste lachen. Ihre Mutter hatte schon immer viel Wert darauf gelegt, niemals eine alte Frau in beigefarbener Einheitsuniform und mit Löckchen zu werden. Ein bisschen konnten sie sie ruhig damit aufziehen.
Sie telefonierten insgesamt eine halbe Stunde, und Michael fragte nicht noch mal, wann sie zurückkam. Er hatte ihren Wunsch nach Distanz offenbar akzeptiert und gab ihr den Raum, den sie brauchte.
Mitten in der Nacht riss das Klingeln ihres
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