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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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mit knirschenden Reifen zum Stehen. Der Regen war inzwischen stärker geworden. Sie warfen alle Förmlichkeit über Bord, kletterten hastig aus dem Wagen, rannten die Stufen hinauf, wobei sie sich schützend ihre Jacken und Taschen über den Kopf hielten, und drängten sich durch die offene Tür ins Innere. Dort warteten sie zitternd und triefend, bis der Butler wieder erschien, um sie zum Hausherrn zu führen.
    Das Innere des Châteaus – «Villa» empfanden sie alle als völlig unzulängliche Bezeichnung – war kalt und unwirtlich. Alles schien aus weißem Marmor geschnitten: die Böden, die Treppen, die korinthischen Halbsäulen, die in die Wände eingelassen waren. Marmorbüsten, alle antik, standen auf Podesten, und in Marmornischen zeigten Marmorathleten ihre Marmormuskeln.
    «Man kommt sich vor wie in einem Mausoleum», bemerkte Jackson fröstelnd. Die einzige Farbe war die der prächtigen Ölgemälde, die die Wände zwischen den Säulen bedeckten. Nymphen mit weißen Brüsten führten unselige Helden in Versuchung; Alabastergöttinnen verwandelten schwache, fehlbare Männer in Stein. Eine blondhaarige, mit Blumenkränzen geschmückte Frau bewunderte sich selbst in einem goldenen Spiegel. Auf einem Bild drückte ein missgestalteter Mann einer Frau einen Eisenpanzer an die Brust. Alles auf der Leinwand war düster bis auf die Frau, von der ein geradezu ätherisches weißes Leuchten ausging. Hinter ihr blähte sich ein blutrotes Gewand.
    Reed blieb vor dem Gemälde stehen. «Van Dyck. Die Frau ist Thetis, der Lahme Hephaistos. Und das» – er zeigte auf den eisernen Brustpanzer, den Finger nur wenige Zentimeter von der Leinwand entfernt – «ist die Rüstung des Achilles.»
    «Gut zu wissen, wie sie aussieht», murmelte Jackson.
    Der Butler führte sie in einen Salon, wo Möbel im Second-Empire-Stil um einen Marmorkamin gruppiert standen. Die farbenfrohen Brokat- und Chintzstoffe wirkten in dem kühlen Raum nur umso prächtiger, edel und elegant inmitten der umgebenden Leere. Nach hinten führten hohe Fenstertüren auf eine Terrasse hinaus. Regentropfen sprenkelten das Glas, und die Gärten unterhalb waren im schwachen Licht kaum zu erkennen.
    Ein Blitz tauchte für einen Sekundenbruchteil den gesamten Raum in ein zauberisches silbernes Licht. Das Feuer spie Funken, und die schwache elektrische Beleuchtung flackerte wie Kerzenschein. Fast gleichzeitig ließ Donnergrollen das Haus erbeben, als würde der ganze Berg in seinen Grundfesten erschüttert. Es dauerte einen Moment, bis sich Grants Augen wieder an das schummrige Licht gewöhnt hatten – und dann riss er sie vor Überraschung weit auf.
    Ein Mann stand am Feuer, vor einer Chaiselongue. Er musste darauf gelegen haben, als sie hereinkamen, auch wenn Grant ihn bis eben nicht bemerkt hatte. Sein Gesicht war bleich und faltig, und die beinahe durchscheinende Haut schimmerte im Feuerschein. Eine Mähne glatt zurückgekämmten silbernen Haares reichte ihm fast bis auf die Schultern. Der Mann trug eine Hausjacke aus Samt und eine weite, lockere Hose. Er war barfuß.
    « Mes amis. Willkommen.»

EINUNDZWANZIG
    Sie nahmen auf den steifen Sitzmöbeln Platz. Der Butler legte ein Scheit im Kamin nach und zog sich dann zurück. Sourcelles schaute Reed an, und auch die Übrigen wandten sich erwartungsvoll dem Professor zu. Sie alle hatten instinktiv das Gefühl, dass nur eine außergewöhnliche Kapazität es mit Sourcelles auf dessen Spezialgebiet aufnehmen konnte.
    «Ihr Besuch ist mir eine Ehre, Professor Reed. Sie müssen wissen, ich bewundere Ihre Forschungsarbeit sehr. Aber wer sind denn Ihre Freunde?»
    Reed räusperte sich. «Mr.   Jackson und Mr.   Muir von der amerikanischen beziehungsweise der britischen Regierung. Miss Papagiannopoulou – sie war John Pembertons Assistentin auf Kreta, des englischen Archäologen. Und …» – in diesem Fall fiel ihm keine nähere Beschreibung ein – «Mr.   Grant.»
    Sourcelles warf Grant einen abschätzenden Blick zu, nicht feindselig, aber mit einem gewissen Misstrauen. «Willkommen. Möchten Sie vielleicht einen Cognac? Oder ein Glas Calvados?»
    «Nein danke», antwortete Reed für sie alle. Dabei wäre Grant ein wärmender Schluck jetzt sehr willkommen gewesen.
    «Bien.» Sourcelles machte es sich in einer katzenhaften Pose auf seiner Chaiselongue bequem. Er nahm eine lange silberne Zigarettenspitze aus einem Etui auf dem Beistelltischchen, steckte eine Zigarette hinein und nahm einen tiefen Zug. Eine

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