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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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und Poeten – keine Tagesausflügler, die ihre paar Pennys bezahlten, um sich unterhalten zu lassen.»
    «Wir sind auch keine Touristen», platzte Jackson heraus. «Professor Reed kommt von der Oxford University.»
    Sourcelles lachte. «Ich bin selbst in Oxford gewesen. Als junger Mann habe ich all die berühmten Stätten der Wissenschaft aufgesucht. Paris, Berlin, Oxford. Ich habe zu Füßen großer Gelehrter gesessen und sie nach dem Trojanischen Krieg gefragt. Sie haben mich ausgelacht. Selbst nachdem Schliemann bewiesen hatte, dass Homers Schilderungen auf Tatsachen beruhten, konnten sie es nicht akzeptieren. Sie spannen Lügen um ihn: Er habe seine Funde mit kleinen Schätzen gewürzt, die er auf den Märkten von Athen gekauft hatte; die Berichte über seine Ausgrabungen seien Fiktion; er könne nicht zwischen den einzelnen Ebenen seiner Funde unterscheiden. Rufmord. Verleumdung. Als er nach Troja ging, sagten sie voraus, er werde überhaupt nichts finden. Nachdem er nicht nur eine Stadt, sondern ein halbes Dutzend gefunden hatte, behaupteten sie, keine davon könne die richtige sein – sie alle waren angeblich zu alt oder nicht alt genug, oder es gab keine Anzeichen eines Krieges. Diese Leute machten sich über Schliemann lustig, weil sie es mit ihrer beschränkten Vorstellungskraft einfach nicht erfassen konnten. Dieselben Männer hielten mich für einen zweiten Schliemann, einen reichen kleinen Jungen, der sein Geld darauf verwenden würde, Phantasieschlösser zu bauen. Sie hatten keinen Sinn für die Helden der Antike. Sie waren engstirnige, kleingeistige Leute, die das wahre Format der Heroen nicht begreifen konnten. Sie waren nicht würdig. Also beschloss ich, die Relikte aus dem Zeitalter der Heroen zu sammeln, soweit ich es mir leisten konnte, und ihr Andenken in Ehren zu halten.
    Außerdem ist die Weiße Insel nicht verborgen, ebenso wenig, wie Troja und Mykene jemals verborgen waren. Wenn die Menschen sie verloren haben, dann nur, weil sie nicht glauben. Sie kennen doch die Geschichte von Kassandra, der Priesterin von Troja, deren Schicksal es war, die Wahrheit zu sprechen, damit aber immer nur auf Unglauben zu stoßen. Sie ist die eigentliche Heldin der Geschichte. Nicht Helena oder Achilles oder Odysseus. Seit dreitausend Jahren kennt jede Generation die wahre Geschichte von Troja – und jede Generation weigert sich aus Kleingeistigkeit, sie zu glauben.»
    «Aber sämtliche Quellen widersprechen einander», wandte Marina ein. «Je nachdem, wem man glaubt – Plinius, Pausanias, Lykophron, Strabo oder Arrianos –, könnte die Weiße Insel an der Mündung der Donau, des Dnjepr oder irgendwo im offenen Meer liegen.»
    Sourcelles nickte. Es war eine Geste beinahe väterlicher Anerkennung, als lobte er eine altkluge Tochter, doch zugleich lag etwas Unersättliches darin, eine Gier, sie weiterzulocken. Er stand auf, ging zu dem Bücherschrank an der Wand, zog einen schmalen braunen Band heraus und legte ihn auf den niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes. Grant sah, dass Sourcelles’ Name in goldener Prägeschrift auf dem Deckel stand. Sourcelles schlug das Buch bei einer doppelseitigen Landkarte auf und drückte die Seiten flach, während sich die anderen vorbeugten, um besser sehen zu können.
    «Das Schwarze Meer.» Auf dem dicken, cremeweißen Papier erinnerte es an ein körperliches Organ mit den diversen Strömen, Meerengen und Zuflüssen, die davon ausgingen wie gewundene Blutgefäße. «Hier» – Sourcelles zeigte auf die nordwestliche Ecke – «mündet die Donau und hier» – er wies auf den nördlichsten Punkt – «der Dnjepr. In der Mitte zwischen beiden der Dnjestr. Die Entfernung beträgt jeweils hundert Kilometer. Alors …»
    Er nahm einen hölzernen Zirkel aus einer Dose und gab ihn Marina. « Mademoiselle. Sie können uns zeigen, welcher Punkt fünfhundert Stadien von der Mündung des Dnjestr entfernt liegt.»
    Marina stellte den Zirkel anhand des Maßstabs der Karte ein, dann setzte sie die Spitze in der schmalen Bucht an der Mündung des Dnjestr an und drehte. Der blasse Kreis, den sie zeichnete, berührte sowohl die Mündung der Donau als auch die des Dnjepr.
    «Ich sehe nicht, dass uns das weiterbringt», bemerkte Reed.
    Sourcelles beachtete den Einwand nicht. «Plinius ist eine fausse piste, wie sagt man, eine falsche Fährte. Hier» – er tippte mit einem silbernen Bleistift auf die Mündung des Dnjepr – «lag die griechische Kolonie Olbia. Sie wurde im 7. Jahrhundert

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