Der vergessene Tempel
Rauchwolke hüllte seinen Kopf ein. Alle warteten – doch er schien völlig in Gedanken versunken, als habe er seine Besucher bereits wieder völlig vergessen.
«Vor sechs Jahren haben Sie eine kleine minoische Tontafel gekauft, in Athen, bei einem Händler namens Molho», begann Reed. Er sprach zurückhaltend, wie ein Student, der einen schlecht vorbereiteten Essay vortrug.
Sourcelles zuckte kaum wahrnehmbar die Schultern, eine winzige Geste der Gleichgültigkeit.
Reed fuhr fort: «Die Tafel war unvollständig. Jemand hatte sie in zwei Teile zerbrochen.»
«Und dieser Jemand war der Mann, der sie Ihnen verkauft hat», fügte Grant hinzu, woraufhin Sourcelles’ Augen zuckten wie die einer Schlange. «Hat Molho Ihnen das gesagt? Dass er den anderen Teil an John Pemberton verkauft hat.»
Sourcelles wandte sich an Marina. «Haben Sie einen Beweis dafür? Waren Sie dabei?»
«Wir hatten das Täfelchen, bis vor zwei Tagen. Ein Deutscher hat es uns gestohlen – auch wenn er selbst wohl sagen würde, dass er sich nur zurückgeholt hat, was ihm gehört. Er war es nämlich, der die Schrifttafel ursprünglich ausgegraben hat.»
«Wie sah sie aus?»
«Etwa so groß.» Reed zeigte das Format mit den Händen an. «Ein Dutzend Zeilen Inschrift in Linear B auf der Vorderseite. Auf der Rückseite eine verblasste Zeichnung mit der typischen Ikonographie, die im Zusammenhang mit minoischen Heiligtümern bekannt ist. Ich nehme an, Ihr Teil sieht ganz ähnlich aus. Vielleicht so?»
Er zog Pembertons Fotografie hervor, die inzwischen arg verknickt war, und reichte sie Sourcelles. Der Franzose warf einen flüchtigen Blick darauf. «Das könnte alles Mögliche sein. Ich habe viele Stücke in meiner Sammlung. Es ist die beste private Sammlung mykenischer Artefakte weltweit, soweit ich weiß. Eine private Sammlung», wiederholte er. Beim Sprechen drangen kleine Rauchwölkchen aus seinem Mund. «Sie ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich.»
«Wir sind nicht die Öffentlichkeit», entgegnete Grant. «Und wir sind nicht die Einzigen, die hier nach dieser Schrifttafel suchen. Rufen Sie doch mal bei der Polizei in Athen an und erkundigen Sie sich, was aus Molho geworden ist. Es hat ihn bereits eine Hand gekostet, als er Sie vor Belzig zu schützen versuchte. Wussten Sie das?» Er betrachtete Sourcelles’ Gesicht, die Haut wie abgeschabtes Pergament. Er war sich ziemlich sicher, dass Sourcelles von dem grausamen Zwischenfall wusste. «Jetzt hat er sein Leben gelassen – nur dass er Sie diesmal nicht schützen konnte. Belzig weiß, dass Sie dieses Ding haben. Er wird herkommen; wahrscheinlich ist er schon auf dem Weg. Wollen Sie wissen, was er mit Molho gemacht hat? Nichts Schönes, wie Sie sich vermutlich denken können.»
«Und wenn ich Ihnen die Tafel zeige, was werden Sie mit dem Wissen anfangen? Ich frage mich: Ist Ihnen überhaupt klar, wonach Sie wirklich suchen?» Sourcelles warf Grant einen durchdringenden Blick zu. Als er in dessen Gesicht keine Antwort las, wandte er sich mit einem verächtlichen Schnauben ab.
«Die Weiße Insel», sagte Marina. Sie sah Sourcelles fest an und achtete nicht auf die skeptischen Gesichter der anderen. Sourcelles erwiderte ihren Blick. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, wobei Grant allerdings nicht erkennen konnte, ob es ein Ausdruck des Respekts war oder der Befriedigung über einen persönlichen Sieg.
«Die Weiße Insel war Achills letzte Ruhestätte, der Ort, an den seine Mutter ihn brachte, nachdem er im Kampf um Troja gefallen war. Sie ist außerdem der Ausgangspunkt des Heroenkults um ihn. Die Schrifttafel enthält den Schlüssel dazu, sie zu finden.»
Sourcelles lachte mit leisem Spott. «Vielleicht. Aber wie wollen Sie diesen Schlüssel benutzen? Ist es Ihnen etwa gelungen, die minoische Schrift zu entziffern?» Er las die Antwort von ihren Gesichtern ab. «Ich glaube kaum. Viele haben versucht, diesen Code zu knacken – ich selbst habe es immer wieder versucht. Diese Schrifttafeln sind comme une femme. Man besitzt ihren Körper, aber ihre Geheimnisse behält sie für sich.»
Er blies einen Rauchkringel in die Luft. «Wissen Sie, was ein Museum ursprünglich war? Das war keine Ausstellungshalle, wohin die ungebildeten Massen kommen konnten, um Relikte anzugaffen, die sie niemals verstehen würden. Ein Museion war ein Musentempel, ein Heiligtum für die Göttinnen der Erinnerung. Die Männer, die dort arbeiteten, waren ein geweihter Orden, bestehend aus Priestern
Weitere Kostenlose Bücher