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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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vor Christus von Siedlern aus Milet gegründet, die kamen, um von den Skythen Pelze und wertvolle Steine im Tauschhandel zu erwerben. Achilles war gewissermaßen der Volksheld dieser Gegend – der Schutzheilige, Sie verstehen? Sie haben ihm einen Tempel gebaut, auf einer kleinen Insel, wo der Fluss ins Meer mündet. Aber das geschah, weil die Geschichte der Weißen Insel bekannt war, weil Achilles bereits mit dieser Gegend in Verbindung gebracht wurde. Jahrhunderte später erinnerten sich Dichter und Geographen an die Geschichte der Weißen Insel; sie erinnerten sich, dass es auf einer Insel bei Olbia einen Achillestempel gab, und dachten, beides müsse derselbe Ort sein.»
    «Wenn es also dort nicht ist, dann muss es in der Donaumündung sein.»
    « C’est possible. Das glaubten jedenfalls Pausanias und Lykophron, und es gibt viele Inseln im Mündungsbereich der Donau. Aber Pausanias ist selbst nie am Schwarzen Meer gewesen. Er wiederholte nur, was er in einer weitaus älteren Quelle gelesen hatte. Und er hat falsch übersetzt. Die korrekte Lesart lautet nicht in der Mündung der Donau, sondern gegenüber .»
    Marina fuhr mit dem Finger den Bleistiftkreis nach, den sie gezeichnet hatte: aus der Donaumündung heraus, durch das offene Meer und im Norden wieder auf das Ufer zu. Ihr Finger glitt über die Karte – und dann, am nördlichsten Punkt des Kreises, hielt er einen Moment lang inne. An der Spitze ihres Nagels, beinahe unkenntlich gemacht von der Bleistiftlinie, die genau hindurch verlief, befand sich auf dem Papier ein dunkler Fleck. Es hätte ein Tintenklecks sein können oder eine zerquetschte Fliege, doch als Marina näher hinsah, erkannte sie … «Es ist eine Insel.» Sie schaute blinzelnd auf. «Wie heißt sie?»
    «Auf Russisch wird sie Ostrov Zmeinyj genannt, auf Türkisch Yilanada .» Sourcelles lächelte, als er die verständnislosen Gesichter sah. «Beides bedeutet dasselbe. Der griechische Name lautet Ophidonis .»
    «Die Schlangeninsel», sagten Marina und Reed beinahe wie aus einem Mund.
    Sourcelles nickte. «Sie kennen die Symbolik der Schlange. Sie kriecht in dunkle Erdlöcher, hinein in die finstersten Tiefen, wohin kein Mensch vordringt. Sie besitzt die Macht des Todes – aber auch die des Lebens.»
    «Des Lebens?», wiederholte Grant skeptisch.
    Sourcelles zeichnete in eine Ecke der Seite eine Wellenlinie und dann längs hindurch eine Gerade. «Sie kennen das Symbol der Heilberufe? Die Schlange, die sich um den Stab windet. Es ist ein altes griechisches Zeichen, der Asklepiosstab. Die Schlange ist eines der frühesten Symbole primitiven Lebens – geschlechtslos, zeitlos, fähig, sich selbst zu erneuern, indem sie ihre alte Haut abwirft und zurücklässt. Außerdem wurden Schlangen mit der Sehergabe in Verbindung gebracht. Der Seherin Kassandra haben Schlangen die Augen und Ohren geleckt, als ihre Eltern sie alleinließen, und so erhielt sie ihre Fähigkeiten. Und Apollons Priesterin in Delphi war die Pythia, eine Pythonschlange in menschlicher Gestalt, durch die das Orakel sprach, wenn sie in Trance fiel.»
    «Und dann die minoische Schlangenfrau», warf Grant ein. Das Bild von den Schlangen, die sich um ihre Hüften und Brüste wanden, hatte sich auf verstörende Weise in seinem Kopf festgesetzt.
    Sourcelles zog ironisch eine Augenbraue hoch wie ein Lehrer, der über den Jungen in der letzten Bank überrascht ist. « Très bien. Laut Arrianos gab es auch im Achillestempel auf der Weißen Insel ein Orakel. Also welcher Ort wäre passender für diesen Tempel des unsterblichen Helden, diese Pforte zur Unterwelt, als die Schlangeninsel?»
    «Aber die liegt in der verdammten UdSSR!», platzte Jackson heraus. Er stieß mit einem Finger auf die Buchseite. «Wollen Sie mir sagen, dass die Sowjets die ganze Zeit auf diesem Ding hocken?»
    Draußen zuckte ein gegabelter Blitz ins Tal, und der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben wie Kugelhagel. Der Lärm des Wassers umgab sie von allen Seiten, es strömte rauschend von den Dächern, durch die Rinnsteine und den Berghang hinunter.
    «Ist jemals jemand dort gewesen?», fragte Muir ruhiger.
    Sourcelles schwenkte seine Zigarettenspitze wie einen Zauberstab. «1823 hat ein russischer Offizier der Schwarzmeerflotte, ein Kapitänleutnant Kritskij, dort angelegt. Er hat seinen Bericht einem Forscher an der Akademie der Wissenschaften und der Künste in Sankt Petersburg übergeben.»
    Alle fünf beugten sich gespannt auf ihren Sitzen vor. Das Feuer

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