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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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ohne unterscheidbare Charakterzüge; die Töpfe waren mit dicken Ringen in unglasierten Farben bemalt. Marina nahm eine Figur in die Hand – eine vertraute Gestalt, eine Göttin mit ausgebreiteten Armen, allerdings nicht so detailliert dargestellt wie diejenige, die sie in der Höhle auf Kreta gefunden hatten. «Das hier ist der kostbarste Teil von Sourcelles’ Sammlung. Alles in diesem Raum – mit Ausnahme der Friese – stammt von vor dem ersten dunklen Zeitalter der Griechen.»
    Sie zog eine der breiten, flachen Schubladen heraus. Darin lagen auf dunkelblauem Samt sechs Tontäfelchen, jedes etwa postkartengroß und alle mit den zierlichen Symbolen der Linearschrift B bedeckt. Sie strich mit dem Finger über eine, fühlte die eingeritzten Schriftzeichen wie die Rillen einer Haut. Der Lärm draußen im Flur hatte ausgesetzt; das einzige Geräusch im Raum war das Trommeln der Regentropfen auf dem Glasdach. Auch das klang gedämpft, als verblasste hier selbst die Macht des Unwetters – aber vielleicht erschien es auch nur nach dem Lärm der Schießerei so.
    «Wahrscheinlich holen sie gerade Verstärkung.» Grant begann die Schubfächer zu durchsuchen, Nische für Nische entlang einer Seitenwand des Raumes. Marina tat dasselbe, wenn auch langsamer und systematischer, auf der anderen Seite. Nicht alle Fächer enthielten Tontäfelchen. Manche waren mit kleinen Figuren gefüllt oder mit Steintafeln und Spangen; manche Teile waren intakt, andere in Bruchstücken.
    «Hier.» Marina hob ein Teil aus dem Schubfach vor sich und drehte es herum. Obwohl sie wusste, womit sie zu rechnen hatte, schnappte sie nach Luft. Da war die Zeichnung, im selben Stil wie diejenige, die sie zu der Höhle auf Kreta geführt hatte. Die Linien waren vom Alter verblasst, aber sie glaubte dennoch die Umrisse eines Schiffes zu erkennen, das Zickzackmuster von Wellen und die Stierhörner.
    Grant rannte zu ihr, warf einen flüchtigen Blick auf das Täfelchen und schaute dann nach oben. «Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.»
    Der Raum schien plötzlich zu pulsieren, als eine Maschinengewehrsalve von außen in die Tür einschlug, gedämpft wie Schläge mit einem Gummihammer. Woraus auch immer die Tür bestand, sie schien stark genug, um dem standzuhalten – wenigstens vorläufig.
    «Sie sind wieder da», stellte Grant fest.
    «Wie kommen wir jetzt hier raus?»
    Grant zog den Webley. «Halt dir die Augen zu.»
    «Was?»
    «Augen zu!» Ohne weitere Warnung hob Grant den Revolver wie eine Startpistole und feuerte drei Schüsse in das Dach. Dann zog er schnell Marina an seine Brust und schirmte sie mit seinem Körper gegen den Kristallregen aus Splittern und Wasser ab, der sich über sie beide ergoss. Als das Prasseln der Glasscherben nachließ, blickte er auf. Durch ein gezacktes Loch in der Glaskuppel strömte der Regen herein.
    Grant holte die Holzleiter aus der Ecke und stellte sie unter dem Loch auf. Sie schwankte beängstigend, als er an den Ausstellungsvitrinen vorbei höher und höher stieg. Aber nicht hoch genug. Als es nicht mehr weiterging, fehlte ihm noch ein knapper Meter.
    In diesem Moment erschütterte eine gewaltige Explosion das Gebäude, und der ganze Raum schien zu beben. Sammlungsstücke schepperten auf ihren Regalböden, und von dem zertrümmerten Dach lösten sich noch ein paar Glasscherben und fielen zu Boden. Grant schwankte hin und her wie ein loses Tauende. Marina hängte sich unten an die Leiter und versuchte verzweifelt, sie mit ihrem Gewicht zu halten. Hinter ihr war die Tür beinahe aus den Angeln gerissen.
    «Sie versuchen, sie aufzusprengen», rief sie zu Grant hinauf.
    «Ich weiß.» Er schaute sich verzweifelt um. Auf dem Regal an der Wand neben sich entdeckte er eine verwitterte Metallklinge, vielleicht ein altes Schwert. Er nahm sie, streckte sie hoch und schlug damit gegen den gezackten Rand des Loches in dem Glasdach. «Pass auf deinen Kopf auf», rief er, als wieder Glassplitter niederprasselten. Der Regen lief ihm in die Augen. Das Schwert war schlüpfrig vor Nässe, und das Hemd klebte ihm am Leib. Aber es gelang ihm, den größten Teil des Glases aus der Bleifassung zu entfernen.
    «Jetzt gut festhalten.» Er legte das Schwert ab, ließ mit den Händen die Leiter los und stützte sich an der Wand ab. Mit zwei schnellen Schritten stieg er die letzten beiden Sprossen hinauf, blieb auf der obersten einen Moment lang schwankend stehen wie ein Akrobat auf dem Hochseil, dann sprang er, die Arme nach der Kante

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