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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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spricht Kurchosow. Ich habe Ihre Freundin.»
    Grants Herz schlug schneller. Er sagte nichts.
    «Ich biete sie Ihnen im Austausch gegen die Schrifttafel.»
    Jackson am anderen Ende des Tresens legte eine Hand über die Sprechmuschel und flüsterte: «Versuchen Sie Zeit zu schinden.»
    «Ihr Freund Belzig hat die Tafel gestohlen.»
    «Es gibt einen zweiten Teil.» Die Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an. «Den Teil, auf den es ankommt. Sie haben ihn aus dem Haus des Franzosen gestohlen.»
    «Wir haben ihn in Griechenland zurückgelassen.»
    Es zischte in der Leitung. «Ich hoffe für Ihre Freundin, dass Sie das nicht getan haben.»
    «Die Tafel ist ohnehin nutzlos. Sie könnten sie gar nicht lesen.»
    «Das werden wir selbst sehen – wenn Sie sie uns geben.»
    «Ich kann nicht.»
    «Sie werden es tun», entgegnete Kurchosow mit schneidender Stimme. «Wir treffen uns morgen um diese Zeit in Üsküdar an der Fähre. Sie bringen die Tafel mit.»
    Dann war die Leitung tot.

    «Glauben Sie jetzt endlich, dass Marina nicht gemeinsame Sache mit ihnen macht?»
    Jackson schien etwas erwidern zu wollen, doch dann sah er das gefährliche Funkeln in Grants Augen und besann sich eines Besseren. Stattdessen wandte er sich an Reed. «Wie kommen Sie mit der Übersetzung voran?»
    Der Professor machte ein düsteres Gesicht. «Heute Morgen dachte ich kurz, ich hätte es. Aber inzwischen habe ich wieder das Gefühl, ich könnte ebenso gut versuchen, Wörter aus einem Hut zu zaubern.»
    «Können wir Ihnen irgendwie helfen?», fragte Grant.
    Jackson zog an seiner Zigarette. «Wie stellen Sie sich das vor? Wenn er das nicht lesen kann, dann können Sie es verdammt nochmal erst recht nicht. Und für mich ist das alles ohnehin Chinesisch. Beziehungsweise Griechisch.»
    Der Witz war nicht besonders originell, doch auf Reed hatte er eine elektrisierende Wirkung. Der Professor setzte sich mit einem Ruck kerzengerade und starrte Jackson einen Moment lang an, dann sprang er auf. «Entschuldigen Sie mich», murmelte er und stürmte zur Tür hinaus.
    «Was zum Teufel …»
    Jackson und Grant folgten ihm ins Nebenzimmer. Als sie eintraten, kniete er bereits auf dem Bett und suchte fieberhaft in den Papieren, die überall verstreut lagen.
    «Was ist los?»
    Er drehte sich um. Seine blassblauen Augen waren weit aufgerissen, aber dennoch schien er die beiden kaum wahrzunehmen. «Ich glaube, ich habe es.»

NEUNUNDZWANZIG
    In dieser Nacht schlief keiner der drei. Grant und Jackson standen abwechselnd auf dem Gang Wache und kämpften mit zahllosen Zigaretten und literweise Kaffee gegen den Schlaf an. Reed hingegen benötigte keine Aufputschmittel. Jede Stunde klopften sie an seine Tür, um nachzusehen, ob der Professor irgendetwas brauchte; jedes Mal verscheuchte er sie mit einer Handbewegung. Wie er da im Schein einer Lampe gebeugt an seinem Schreibtisch saß, einen Morgenrock über der Kleidung, und fieberhaft kritzelte, erinnerte er Grant an eine Gestalt aus einem Märchen – eine Art Rumpelstilzchen, das die Nacht durcharbeitete, um Papier und Ton zu Gold zu spinnen.
    Wenn Grant gerade nicht selbst mit Wachehalten an der Reihe war, lag er schlaflos auf seinem Bett, zitternd von dem vielen Koffein, dem Nikotin und der Übermüdung. Er bemühte sich, die Gedanken an Marina zu verdrängen. Wenn ihm das nicht gelang, versuchte er seine Ängste zu unterdrücken, indem er glücklichere Erinnerungen heraufbeschwor. Auch das half nicht. Um drei Uhr früh, nach seiner zweiten Wache, stieg er zur Dachterrasse des Hotels hinauf und ließ den Anblick der nächtlichen Stadt auf sich wirken. Das Hotel lag im Viertel Sultanahmet, im Herzen der Altstadt. Zur Rechten konnte er die Spitze eines Obelisken im alten Hippodrom sehen, ein Stück daneben die Kuppeln der Blauen Moschee und die Minarette der Hagia Sophia. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben empfand er die Schönheit der Geschichte.
    Als er wieder hinunterging, war der Gang leer, und die Tür zu Reeds Zimmer stand offen. Grant rannte los, doch dann hörte er aus dem Zimmer vertraute Stimmen und verlangsamte seinen Schritt. Reed war noch dort. Er saß in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl, während Jackson über seine Schulter auf etwas auf dem Schreibtisch starrte.
    Als Grant eintrat, hob Jackson den Kopf. «Er hat es geknackt.»
    Reed wirkte erschüttert – so sehr, dass es nicht allein mit seiner Übermüdung zu erklären war. Er sah aus wie ein Mann, der hinter den Vorhang eines

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