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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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stemmte sich endlich über die Oberkante der Felswand. Dort blieb er einen Moment lang schwer atmend liegen und rieb sich die Arme.
    «Wie sieht’s aus da oben?»
    Der Ruf, der schwach zu ihm heraufdrang, holte ihn in die Gegenwart zurück. Er spähte über die Kante. Reed und Jackson standen noch immer auf dem Felsen am Abfluss des Sees und schauten zu ihm auf wie Frösche von einem Seerosenblatt.
    Wie es hier oben aussah? Grant blickte sich um. Er befand sich jetzt in einem Tal mit steilen Felswänden zu beiden Seiten, das wie eine eingesunkene Wiese wirkte. Es gab keine Bäume, nur der Fluss wand sich durch das hohe Gras. Der Ort war überraschend still und friedvoll; selbst das Tosen des Wasserfalls klang fern und gedämpft. Grant fühlte sich auf seltsame Weise an Schottland erinnert. Am anderen Ende des Tals, vor einer weiteren Felswand, ragten zwei steinerne Säulen wie Stoßzähne aus dem Boden.
    Grant nahm das aufgerollte Seil von der Schulter, knüpfte eine Schlaufe um einen vorstehenden Felsen und warf das andere Ende die Klippe hinunter. Nach wenigen Minuten stemmte sich der erste der Marines über die Kante hoch. Ihm folgten – in unterschiedlicher Geschwindigkeit – Jackson und die Übrigen. Reed mit der Ausrüstung kam als Letzter. Die Marines hatten ihn angegurtet und zogen ihn herauf. Er schien die Tortur unbeschadet überstanden zu haben, sein Gesicht leuchtete sogar vor Aufregung. Andächtig schaute er sich um. «Bemerkenswert», flüsterte er. «Wie eine versunkene Welt … So müssen sich die spanischen Conquistadores gefühlt haben. Womöglich sind wir die ersten Menschen seit dreitausend Jahren, die diesen Ort betreten.»
    «Hoffen wir, dass wir die Einzigen bleiben.»
    Eine Brise strich durch das Tal und ließ sie zittern, da sie alle vom Stolpern durch den Fluss völlig durchnässt waren. Grant blickte noch einmal auf den Weg zurück, über den sie gekommen waren. Der bewaldete Hang verdeckte den Strand, und das Meer dahinter verschwand beinahe im zarten Dunst.
    Sie gingen auf die beiden Säulen zu. Der Boden war weich, das Gras üppig. In den Beugen des mäandernden Flusses wuchs wilder Sellerie. Eine tiefe Stille lag über dem verlassenen Tal.
    Es endete vor einer weiteren Klippe, an der die Felswände zu beiden Seiten zusammenliefen wie am Heck eines Schiffes. Beim Näherkommen betrachteten sie die Steinsäulen, die sie bereits vom Wasserfall aus gesehen hatten. Sie waren gewaltig; fast zehn Meter hoch ragten sie zu beiden Seiten des Flusses auf. Das weiße Gestein war durch Verwitterung geglättet, aber als Grant die Säulen ansah, hatte er dennoch das Gefühl, als sei etwas unauslöschlich Künstliches an ihnen, als wären sie von geschmolzenem Wachs überzogen, durch das die von Menschen geschaffenen Konturen noch hindurchschienen. Je genauer er sie betrachtete, desto stärker wurde sein Eindruck, in dem Stein menschliche Gestalten zu erkennen: Wölbungen, die nichts anderes sein konnten als Schultern und Hüften, Verjüngungen, wo die megalithischen Taillen sein mussten. Am oberen Ende beider Säulen, von unten schwer zu erkennen, befanden sich rundliche Verdickungen, die einmal Köpfe gewesen sein konnten. Und an der rechten Säule waren auf etwa drei Viertel der Höhe zwei Wölbungen zu erkennen, die Grant für angedeutete Brüste hielt. Als er Reed darauf hinwies, nickte der Professor.
    «Philostratos beschreibt zwei Statuen im Tempel, ‹von den Moiren geschaffen›. Er behauptet, es seien Achilles und Helena gewesen.»
    «Helena von Troja?»
    «Ganz recht: die schönste aller Frauen.» Er bemerkte Grants verwirrtes Gesicht und kicherte. «Ja, im Allgemeinen wird sie nicht mit Achilles in Verbindung gebracht. Es gibt allerdings eine obskure Version der Legende, nach der sie tatsächlich zu Achilles auf die Weiße Insel gekommen sein soll, um bei ihm zu leben.»
    «Warum sollte sie das tun? Ich dachte, der Zweck des gesamten Trojanischen Krieges hätte darin bestanden, dass ihr Mann sie zurückholen wollte. Verdirbt das nicht den Schluss, wenn sie stattdessen mit einem anderen durchbrennt?»
    «Und noch dazu mit einem Toten.» Reed seufzte. «Die griechischen Mythen wurden in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren in unüberschaubarem Ausmaß geordnet und umgestaltet – nicht zuletzt durch die klassischen Griechen selbst, denen das Chaos, das ihre Vorfahren ihnen hinterlassen hatten, ein Gräuel war. Andere Versionen des Mythos besagen, dass die Frau, die mit ihm ging,

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