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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Endlich wurde Grants Fall gebremst. Er blieb liegen und wagte es, die Augen zu öffnen. Eine seiner Rippen fühlte sich an, als sei sie gebrochen, und er spürte einen Schmerz im Fußknöchel, doch jetzt war keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. «Himmel, beim nächsten Mal rufen Sie bitte, bevor Sie in ein dunkles Loch springen.»
    Benommen rappelte Reed sich auf und stolperte durch den Gang auf Grant zu. Er war kaum aus dem Weg, als ein weiterer Schatten durch den Schacht heruntergerutscht kam.
    «Lieber Himmel», sagte Jacksons Stimme im Dunkeln. «Es ist wirklich wahr.»
    Grant wollte seine Taschenlampe einschalten, aber sie funktionierte nicht. Anscheinend war sie bei dem Sturz beschädigt worden. Er warf sie weg und zog stattdessen sein Feuerzeug hervor. Die Felswände glänzten feucht im Schein der Flamme; Schatten huschten darüber, als er sich langsam vorwärtstastete. Behutsam stieg er weiter die flachen Stufen hinunter. Trotz des immensen Alters zeigten sie keine Spuren von Abnutzung, keine gerundeten Kanten und glatt geschliffenen Oberflächen, wie man sie von alten Steintreppen kannte.
    «Scheint, als ob hier nicht viele Leute zu Besuch gekommen sind», bemerkte Jackson hinter ihm.
    Der Tunnel führte zu einem Durchgang aus zwei leicht zueinander geneigten Pfeilern aus dicken Quadersteinen. Dazwischen gähnte ein schwarzer Schlund; doch als Grant sein Feuerzeug in die Öffnung zwischen den Säulen hielt, tauchten aus dem Dunkel schemenhafte Formen auf. Er trat zurück und hielt das Feuerzeug hoch, sodass das Licht von den Steinen zu beiden Seiten reflektiert wurde. Schwere bronzene Torflügel versperrten ihm den Weg. Das Metall war von einer dicken, grünlich braunen Patina überzogen, aber man konnte trotzdem noch die Formen erkennen, die darauf eingeprägt waren. Ein Paar riesige Schlangen wanden sich über die Torflügel, und aus den Ecken starrten ihm vier Vögel entgegen. Es gab weder einen Griff noch eine Klinke.
    Grant stemmte sich mit der Schulter gegen den Spalt in der Mitte und drückte. Das Metall knackte, und Flocken platzten von der Oberfläche ab; die Torflügel federten leicht, ließen sich jedoch nicht aufschieben.
    «Vorsichtig», mahnte Reed. «Wenn dieses Tor so alt ist, wie wir annehmen, dann ist es ganz und gar einzigartig.»
    Grant trat einen Schritt zurück und musterte das Tor abschätzend. Dann, ehe Reed ihn hindern konnte, nahm er mit einer halben Drehung um die eigene Achse Schwung und rammte seine Stiefelsohle gegen das Tor. Vom Krachen berstenden Metalls und einem entsetzten Aufschrei des Professors begleitet, brachen die Torflügel aus den altersschwachen Angeln und fielen nach innen. Eine Staubwolke stieg auf, und das Dröhnen von Bronze auf Fels hallte durch den ganzen Tunnel.
    «Himmel. Sie haben wohl eine Vorliebe für dramatische Auftritte.» Jackson drängte sich an Reed vorbei und leuchtete mit seiner Taschenlampe durch das Tor. «Das hier ist es also.» Er wandte sich zu Reed um. «Gratuliere, Professor. Sie hatten recht.»
    Grant trat durch den Torrahmen und blickte sich staunend um. Seit Wochen hatte er diesen Ort in seinen Träumen gesehen, ein mysteriöses Schattenbild einer unterirdischen Kammer. Bei allem, was er sich ausgemalt hatte, hätte er mit einem niemals gerechnet: dass ihm der Anblick vertraut erscheinen würde. Doch jetzt, als er mit den Augen dem Strahl von Jacksons Taschenlampe folgte, der durch den Raum wanderte, überkam ihn das unwirkliche Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Es war eine fast vollkommene Nachbildung der Kultstätte auf Lemnos, ein einziger runder Raum, dessen gemauerte Wände sich über ihren Köpfen zu einer Art Kuppel wölbten. Grant fragte sich, ob die damaligen Baumeister tatsächlich in der Lage gewesen waren, das gesamte Heiligtum in den Fels zu graben, oder ob sie sich einer natürlichen Höhle bedient hatten. So oder so war es eine erstaunliche technische Leistung, und das von Menschen, die so lange vor den Ursprüngen der modernen Zivilisation gelebt hatten.
    «Natürlich», sagte Reed, «das Grab eines Heros – ich hätte mir denken können, dass wir so etwas vorfinden würden. Dies ist ein klassisches mykenisches Tholosgrab . Die Stufen, über die wir heruntergestiegen sind, waren der Dromos, der geheiligte Zugangsweg.»
    Der Strahl der Taschenlampe tanzte weiter über die Wände. Hier gab es keine Reliefs im Stein; stattdessen waren die Mauern im unteren Bereich verputzt und bemalt. Der Putz war zum

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