Der vergessene Tempel
«Haben Sie ein Seil?»
Er watete um den See herum auf den Wasserfall zu, gefolgt von einem von Kowalskis Männern. Die Übrigen sahen vom anderen Rand aus zu. Es war ein schwieriges Unterfangen, sich dem Fuß der Klippe auch nur zu nähern, denn sie fiel bis weit unter die Oberfläche des Sees steil ab, sodass es kaum Felsen gab, auf denen man stehen konnte. An der Stelle, wo Bäume und Felswand sich trafen, zögerte Grant kurz. Er sah keinerlei Halt, abgesehen von einem schmalen Felssims in ein paar Metern Entfernung, der jedoch nur eine gute Handbreit vom Fuß der Klippe abstand. Als Grant in den See blickte, sah er in der schwarzen Oberfläche nichts als sein eigenes Spiegelbild.
«Viel nasser kann ich nicht mehr werden», murmelte er. Er nahm seinen Tornister ab, legte sich das aufgerollte Seil über die Schulter und sprang in den See.
Das Wasser war wärmer als erwartet, und an dieser Stelle drückte ihn die Strömung gegen die Klippen, statt ihn zum Abfluss zu ziehen. Er schwamm zu dem Felsvorsprung und zog sich hoch. In der Brise zitternd stand er da, die Brust an die Felswand gedrückt, und hatte das Gefühl, er müsse jeden Moment rücklings abstürzen.
Er schaute zu dem Marine hinüber, der ihn vom Ufer aus beobachtete. «Drücken Sie mir die Daumen.»
Im Klettern war Grant nicht unerfahren. Als Junge hatte er sich stundenlang auf den Kreidefelsen der Landspitzen von Flamborough herumgetrieben, und als Erwachsener hatte er mehr Mauern und Klippen erklommen, als er zählen konnte. Doch dies war eine Herausforderung der anderen Art. Der Fels war glatt, ohne Ecken und Kanten, wie Haut. Wenn er daran Halt finden wollte, musste er sich an die Felswand schmiegen wie eine Eidechse und die leichtesten Wölbungen nutzen. Er kam nur voran, indem er die Hände zentimeterweise aufwärtsschob. Trotz der glatten Oberfläche waren seine Finger schon bald wund gescheuert. Seine durchnässte Kleidung war eine zusätzliche Last, aber wenigstens klebte das Hemd ebenso an der Felswand wie an seinem Körper. Manchmal schien es das Einzige zu sein, was ihn vor dem Absturz bewahrte.
Er blickte nach unten. Das war ein Fehler – nicht weil er Höhenangst hatte, sondern weil er sah, wie wenig Höhe er erst gewonnen hatte. Entschlossen konzentrierte er sich wieder auf die Klippe und mühte sich weiter. Auf einem kurzen Abschnitt stieg die Felswand nicht ganz senkrecht an, sodass er schneller vorankam. Doch dann wölbte sie sich plötzlich wieder nach außen und bildete einen Überhang. Dort konnte er unmöglich hinaufklettern. Er drückte sich mit der Wange an den Felsen und hielt nach rechts Ausschau: Kein Weg führte darum herum. Zur Linken schien der Wasserfall plötzlich laut wie Donnergetöse.
Es gab keine andere Möglichkeit. Grant suchte mit den Füßen in den kleinen Vertiefungen der Felswand den bestmöglichen Halt, stieß sich ab und reckte sich nach oben. Seine flache Hand schlug gegen den Felsüberhang, sein Arm zitterte, seine Finger tasteten – und fanden eine schmale Spalte im Gestein. Keinen Augenblick zu früh. Gerade als er sie berührte, verloren seine Füße den Halt. Er strampelte verzweifelt, doch seine Stiefel glitten einfach an dem Fels ab. Einen Moment lang hing er in der Luft und hielt sein ganzes Gewicht allein mit den Fingerspitzen.
Er hätte loslassen können, sich fallen lassen, auf sein Glück vertrauen und hoffen, dass der See ihn auffing. Doch das kam für Grant nicht in Frage. Zentimeter für Zentimeter zog er sich hoch. Die Sehnen in seinen Fingern fühlten sich dick wie Taue an, und der Krampf in seinen Händen war fast unerträglich. Selbst die Knochen in seinen Armen schmerzten. Wieder tastete er ein Stückchen weiter aufwärts, und diesmal schloss sich seine Hand um einen festeren Halt. Die Hoffnung verlieh ihm Kraft; sein Zeh fand ein kleines Grübchen im Fels, und er schob sich hinauf. Mit einem Seufzer der Erleichterung wälzte er sich über die Kante eines schmalen Vorsprungs. Er war winzig, kaum dreißig Zentimeter tief, doch Grant kam er riesig vor wie ein Sportplatz.
Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, betrachtete er das Stück, das noch vor ihm lag. Er hatte den oberen Rand der Klippe noch längst nicht erreicht, doch von jetzt an wurde der Aufstieg einfacher. Eine schmale Spalte teilte die Klippe – gerade breit genug, um seine Stiefelspitzen hineinzuzwängen. Nach dem, was er hinter sich hatte, war das fast so gut wie eine Leiter. Er arbeitete sich weiter hinauf und
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