Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper

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eingefunden. Ein leichter Nieselregen fiel, sodass das rostige Metall und der rissige Beton im orangefarbenen Schein der Natriumlampen feucht schimmerten. Das pulsierende Geräusch der Schiffsmotoren im Hintergrund, der Kohlerauch und der schwere Geruch nach Maschinenöl in der Luft schienen die passende Kulisse für den Beginn einer Reise in die Unterwelt abzugeben. Kurz bevor sie aufbrechen wollten, war ein Pritschenwagen aufgetaucht und hatte in der Nähe der Gangway gehalten. Grant erinnerte sich noch an das Zischen der Reifen auf dem nassen Kai. Drei Männer in Kampfanzügen waren herausgesprungen. Zwei von ihnen luden schnell ein halbes Dutzend Seesäcke aus dem Wagen in das sowjetische Flugboot, während der dritte auf sie zukam, um sie zu begrüßen.
    «Lieutenant Kowalski, US Marines.» Er wollte salutieren, doch dann erinnerte er sich an seine Anweisungen und streckte die bereits halb an die Stirn gehobene Hand hastig zum Handschlag aus.
    «Jackson. Das ist Grant.»
    Nachdem er Grant ebenfalls die Hand geschüttelt hatte, sah er Reed an. «Und wer ist das? Lincoln?»
    «Ich habe die drei von der Botschaft ausgeborgt», erklärte Jackson. «So kurzfristig und mitten in der Nacht war niemand sonst verfügbar. Dass Kurchosow erwartet, wir würden ihm die Schrifttafel geben, bedeutet nicht, dass er nicht inzwischen selbst weitersucht. Und wenn er wieder auftaucht, will ich diesmal die Kavallerie dabeihaben.»
    Grant hatte sich prüfend auf dem verlassenen Kai umgesehen und sich gefragt, was wohl in den Schatten hinter dem Maschendrahtzaun lauerte. «Wenn wir Glück haben, weiß er nicht, wo er suchen muss.»
    «Er hat Marina, und sie war dieser Philostratos-Sache schon auf die Spur gekommen.»
    «Sie wird nicht reden.»
    Jackson hatte ausgesehen, als wolle er etwas erwidern, hatte sich jedoch eines Besseren besonnen. «Hoffen wir’s.»

    «Da.»
    Als sie die Spitze des Kaps umrundeten, teilten sich die Klippen. Grant hielt nach Weiden oder Pappeln Ausschau, sah hinter dem Kiesstrand jedoch nichts als eine Schilfwiese, deren Rispen sanft in der Brise schwankten. Dahinter lag eine kleine Lagune, die seitlich von dem Strandausläufer begrenzt wurde, an einem Ende aber durch einen schmalen Durchfluss mit dem Meer verbunden war. Sie steuerten das Flugboot darauf zu. Über ihnen ragten die weißen Klippen auf. Das Knattern des Propellers hallte von den hohen Felswänden wider und hämmerte in ihren Schädeln. Der Kanal war so eng, dass Grant befürchtete, sie würden sich an der Klippe eine Tragfläche abbrechen oder von einer plötzlichen Welle gegen den Fels geschmettert werden.
    Langsam schob das Flugboot seine Nase in die Lagune und kam schließlich in dem ruhigen Wasser zum Stillstand. Sie sprangen hinaus und kletterten schlitternd und stolpernd über die schlüpfrigen Felsen. Kowalskis Männer vertäuten das Flugboot und luden die Ausrüstung aus. Währenddessen ging Grant den Kieshang hinauf zur anderen Seite des Strandes. Dahinter sah er eine enge, mit Bäumen und Büschen bewachsene Schlucht. Ein kleiner Fluss strömte heraus und mündete in die Lagune.
    Reed trat neben ihn. Selbst hier, an der sowjetischen Schwarzmeerküste, war er noch adrett gekleidet, mit Anzug, Weste und Krawatte. Sein einziges Zugeständnis an die praktischen Erfordernisse war sein Schuhwerk: schwarze Armeestiefel, die grotesk unter seiner Tweedhose hervorragten.
    «Angeblich gedieh in der Umgebung von Heroentempeln die Vegetation besonders üppig. Das galt als Zeichen der fruchtbarkeitsspendenden Gegenwart des Heros.»
    «Dadurch wird er nicht gerade leichter zu finden sein.»
    Reed erwiderte nichts. Er schaute sich aufmerksam um, betrachtete die einsame Bucht, die Klippen, deren Weiß an den Marmor eines Grabmals erinnerte, den dunklen Himmel, die Vögel, die klagende Rufe ausstießen, und die Kiesel am Strand, die klapperten wie Gebeine.
Aber bist du im Schiffe den Ocean jetzo durchsegelt,
Und an dem niedern Gestad’ und den Hainen Persephoneiens,
Voll unfruchtbarer Weiden und hoher Erlen und Pappeln;
Lande dort mit dem Schiff’ an des Oceans tiefem Gestrudel,
Und dann gehe du selber zu Aïdes dumpfer Behausung.
    «Das klingt immerhin, als hätten wir diesmal den richtigen Ort gefunden.»
    Grant hörte hinter sich Schritte vom Strand heraufkommen. Er drehte sich um und sah, dass es Jackson war.
    «Wohin jetzt, Professor?»
    Reed zuckte die Schultern. «In der Odyssee ist von einem Fluss die Rede. Ich nehme an, wir sollten ihm