Der vergessene Tempel
Tatsache, dass er überzeugt ist, wir hätten haufenweise Bomben, die wir auf Moskau werfen könnten, sobald er eine falsche Bewegung macht. Nur dass wir eben momentan keine haben.»
Grant atmete tief durch und bemühte sich, diese Information zu verarbeiten. Er hatte Bilder von Hiroshima und Nagasaki in den Nachrichten gesehen, aber nicht wirklich begriffen. «Und aus diesem Element 61 – Prometheum – kann man also Atombomben machen?»
«Tja, das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, weil es bisher noch niemand in die Hände bekommen hat. Aber unsere Wissenschaftler haben entsprechende Berechnungen angestellt. So funktioniert das heutzutage.» Er schüttelte den Kopf, weil ihm ein Schweißtropfen ins Auge gelaufen war. «Ein paar Superhirne sitzen drei Jahre lang mit ihren Rechenschiebern in einem Büro, und am Ende bauen sie eine Waffe. Verdammt, bei der Hiroshima-Bombe haben sie sich nicht mal die Mühe gemacht, sie vor dem Abwurf zu testen. Hauptsache, die Zahlen auf dem Papier stimmten.»
«Und hat Muir das alles gewusst?»
«Muir wusste, was das Zeug bewirken kann. Er wusste allerdings nicht, warum wir es so dringend brauchen. Glaube ich jedenfalls. Scheiße .» Jackson schlug mit dem Stiefelabsatz auf den Boden. «Dieser elende Bastard. Er hat uns alle verarscht.»
Reed, der an der Wand gegenüber saß, schaltete sich überraschend in das Gespräch ein. «Spielt das jetzt eine Rolle?»
« Ob das eine Rolle spielt? Haben Sie überhaupt zugehört, was ich gerade gesagt habe?»
«Durchaus. Sie sagten, Stalin wird dadurch abgeschreckt, dass er an das mächtige Atomwaffenarsenal Ihres Landes glaubt .»
«Das wir nicht haben.»
«Aber das weiß er nicht. Ihre Eskapaden hier werden allenfalls dazu geführt haben, dass er sich wundert, weshalb Sie so verzweifelt versuchen, diese recht abwegige Materialquelle in die Hände zu bekommen.»
Ein Schatten fiel durch den Türrahmen. «Ich dachte, ich schaue mal rein, um Hallo zu sagen.» Es war Muir. Das Hemd klebte ihm feucht am Leib, sodass er noch hagerer als sonst wirkte, beinahe raubtierhaft. Jacksons Gesichtsausdruck war ebenso animalisch: Er schien sich jeden Moment auf Muir stürzen und ihn in Stücke reißen zu wollen. Nur der stählerne Lauf einer Maschinenpistole, der hinter Muirs Schulter hervorragte, hielt ihn zurück.
«Sind Sie wieder mal gekommen, um uns auszuspionieren?»
«Nein, eigentlich bin ich in den Ruhestand getreten. Ich freue mich auf ein sonniges kleines Häuschen im Arbeiterparadies.»
«Wie lange war diese Sache schon im Gange?» Jacksons Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Was blieb, war nichts als ein Gefühl bitterer Niederlage.
«Schon seit einiger Zeit. Ich habe mich an der Universität mit gewissen Leuten angefreundet. Schon damals haben manche von uns erkannt, dass die Sowjets die Einzigen waren, die wirklich den Mumm hatten, sich den Faschisten entgegenzustellen. Ein paar junge Idioten sind hingegangen und haben in Spanien ihr Leben weggeworfen für nichts und wieder nichts – hoffnungslose Romantiker. Wir wollten wirklich etwas bewirken. Wir wollten ihnen helfen.»
«Wobei helfen? Bei den Gulags? Den Schauprozessen? Den Exekutionen?»
«Sie haben die Welt gerettet», versetzte Muir barsch. «Wir und die Amis, wir waren immer nur Randfiguren. Die haben den Krieg an der Ostfront gewonnen, jeden kleinen Schritt zum Sieg mit einem Menschenleben bezahlt. Haben Sie eine Ahnung, wie viele von ihnen da gefallen sind? Millionen. Und jetzt sehen Sie doch nur, was Sie versuchen, ihnen anzutun. Wissen Sie eigentlich, warum die Amerikaner so verzweifelt hinter Element 61 herjagen?»
Muir fixierte Jackson mit einem kühlen, forschenden Blick. Jackson schlug die Augen nieder und tat, als sei er mit den Fesseln hinter seinem Rücken beschäftigt.
«Die Männer in Washington wollen an ihren ehemaligen Verbündeten ein Exempel statuieren. Den Sowjets einen Denkzettel verpassen. Nicht gleich Moskau oder Berlin – aber vielleicht Stalingrad. Um zu beweisen, dass sie können, was die Nazis nie geschafft haben.»
«Das wäre ein lehrreiches Spektakel», murmelte Reed. «Und was haben Sie mit dem Element vor?»
Muir zuckte die Schultern. «Ist das nicht offensichtlich?»
Grant fühlte sich plötzlich taub – dieselbe Empfindung wie damals in den Weißen Bergen, als er seine Pistole auf Alexei richtete und versuchte abzudrücken. Er sah erst Jackson an, der den Blick mit kaltem Trotz erwiderte, dann Muir. «Ich weiß
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