Der vergessene Tempel
Zweifels. Ein solch schweres, wuchtiges Kriegsgerät wäre auf dem Schlachtfeld praktisch nicht brauchbar gewesen. Bei allem poetischen Tiefgang und aller schillernden Kraft müssen wir – wenn auch mit Bedauern – den Schild in den Bereich der Fiktion verweisen, ein Triumph der Vorstellungskraft Homers, erdacht in einem Zeitalter, in dem die praktischen, technischen Aspekte der Kriegsführung in der Bronzezeit bereits durch Legende verklärt waren.»
Reed starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Draußen auf der Turl Street flirteten sommerlich gekleidete Frauen mit Männern in Blazern und Flanellhosen. Auf dem makellosen Rasen jenseits der Collegemauern stießen Krocketkugeln aneinander. Reed nahm nichts davon wahr. Vor seinem geistigen Auge liefen andere Bilder ab: Er stand an einer Felskante und hielt gemeinsam mit Grant das Seil, an dem sie den Schild hinunterzulassen versuchten, ohne dass er in den See fiel. Er stolperte entlang dem von Pflanzen halb überwucherten Fluss zurück, watete durch das flache Wasser und bemühte sich dabei, Marina mit ihrem gebrochenen Bein zu stützen. Er war wieder in der Lagune, kletterte in das Flugboot und betete, dass nicht noch mehr Russen kämen.
Ihm wurde bewusst, dass sein Student zögerte – offenbar hatte er Reeds abwesenden Blick bemerkt und wollte den Professor nicht in seinen zweifellos tiefgründigen Überlegungen stören. Manchmal, fand Reed, hatte es klare Vorteile, im Ruf eines weltfremden Genies zu stehen. Er lächelte. «Fahren Sie fort.»
«Das Bedeutsame ist die Tatsache, dass Homer den Schild gerade Achilles zuschreibt. Er scheint damit auszusagen, dass Achilles die gesamte Welt in der Hand hält. Wenn er kämpft, ist es die Erde selbst, die unter den Streichen erbebt.
In unserem Zeitalter der Atombombe und des staatlichen Gesundheitssystems gelingt es der ungezügelten Gewalt und dem hochmütigen Elitismus, den Achilles verkörpert, womöglich nicht mehr, unsere Sympathie zu wecken.» Der Student blickte flüchtig auf und fragte sich, ob solche konkreten Realitätsbezüge zu gewagt waren, ob sein ätherischer Professor überhaupt schon einmal von der Atombombe oder einem staatlichen Gesundheitssystem gehört hatte. «Odysseus, der List höher bewertet als Stärke, der zehn Jahre lang leidet, um endlich nach Hause zurückzukehren und seine Familie zu retten, erscheint als ein weitaus realistischerer Held in diesem Land, in diesem Jahrhundert.
Doch ich möchte behaupten, wenn wir eine bessere Welt aufbauen wollen, ist es Achilles, der die Parabel der Erlösung bietet. Gewiss, für weite Passagen der Ilias lässt er sich von Zorn beherrschen, ungeachtet der Verheerung, die dieser Zorn über alle bringt, die ihm nahestehen: seine Mitstreiter, seine Gefährten, selbst seinen engsten Freund Patroklos. Doch das Gedicht zeigt, wie er menschlich wird, wie er sich vom besinnungslosen Zorn abwendet, hin zu einem Verständnis seiner Verantwortung gegenüber der Welt.
Metaphorisch gesprochen, existieren wir alle auf dem Schild des Achilles. Wenn die Krieger sich zur Schlacht rüsten, erzittern wir. Wollen wir die neuen Schrecken der Moderne überleben, so müssen wir hoffen, dass der destruktive Zorn, der das Handeln der Menschen bestimmt, durch Vernunft gemildert werden kann, durch ein Gefühl der Verpflichtung und vor allem durch Mitleid.»
Er schob seine Papiere wieder zusammen und legte sie auf den Tisch.
Der Professor schaute ihn aus seinem Ohrensessel schläfrig an. «Sagen Sie mir», begann er schließlich, «glauben Sie an Homer?»
Der Student machte ein erschrockenes Gesicht. Auf diese Frage war er nicht vorbereitet. «Nun, ähem, Schliemanns Funde in der Türkei werfen zweifellos gewisse Fragen auf. Und in Mykene.» Er dachte verzweifelt nach – und zu seiner Überraschung fiel ihm eine Antwort ein. «Ich glaube, im Grunde kommt es darauf gar nicht an.»
Eine weiße Augenbraue hob sich erstaunt. «Nein?»
«Die Dichtung selbst ist das, worauf es ankommt. Sie ist real. Sie ist über zweieinhalb Jahrtausende erhalten geblieben, viel länger als alles, was Menschen aus Metall oder Holz geschaffen haben. Und …» Er suchte nach einer Möglichkeit, seine These zu untermauern. Ein Klopfen an der Tür rettete ihn.
«Entschuldigen Sie, Professor. Da ist ein Gentleman an der Pforte, der Sie sprechen möchte. Er sagt, er kommt aus London.»
Reed schien nicht überrascht; er hatte seit seiner Rückkehr nach Oxford damit gerechnet. Es hatte keinen Sinn,
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