Der vergessene Tempel
Mittagssonne brannte heiß vom Himmel, sein Hemd war schweißnass. Grant zog den Webley, richtete sich vorsichtig auf und spähte über einen Felsen hinab.
Im Haus war es jetzt still. Die Eingangstür und das davor geparkte Auto konnte er nicht erkennen, aber durch das Wohnzimmerfenster, eingerahmt von den Gardinen, sah er eine dunkle Gestalt in der Mitte des Zimmers stehen. Aus ihren Gesten und Bewegungen schloss Grant, dass gerade eine Diskussion im Gange war. Er wandte sich zu Marina. «Hast du das Buch noch?»
Sie hob es halb an, um es ihm zu zeigen. Bis auf ein paar weitere Schrammen im abgenutzten Ledereinband war es unversehrt. «Sind die deswegen hergekommen?»
«Sie waren wohl kaum auf einen freundlichen Plausch mit dir aus.»
«Was sind das für Leute?»
Grant hatte da so eine Vermutung, zuckte aber nur die Achseln. «Niemand, dem wir guten Tag sagen wollen.»
Er schaute wieder den Berg hinab. Die dunkle Gestalt war verschwunden. Auf der anderen Seite des Hauses wurde ein Motor angelassen, und kurz darauf sah er, wie sich das Auto den Weg hinab in Richtung Dorf entfernte. Es zwängte sich in die enge Gasse zwischen den Häusern und verschwand. Marina wollte sich aufrichten, aber Grant packte sie blitzschnell am Handgelenk und riss sie nach unten, so heftig, dass sie beinahe auf ihm gelandet wäre. Mit einem zornigen Knurren rollte sie sich weg – als sie sich wieder aufrichtete, sah Grant, dass in ihrer Hand wie aus dem Nichts ein kleines Messer aufgetaucht war.
«Was hast du vor?»
Ihr Kleid, das bei ihrem Sturz verrutscht war, gewährte tiefe Einblicke in ihr Dekolleté. Sie schien es gar nicht zu bemerken.
«Du kannst jetzt nicht ins Haus zurück», sagte er und ließ betont langsam seinen Blick von dem Messer in ihrer Hand zu der entblößten Haut unter ihren Schlüsselbeinen wandern. Unter dem schwarzen Kleid lugte ein wenig weiße Spitze hervor.
Mit einem angewiderten Schnauben zupfte sie sich das Kleid zurecht. «Warum nicht? Erst kreuzt du hier auf, obwohl ich dich nie wiedersehen wollte, und eine Stunde später dringen zwei malakies in mein Haus ein und verwüsten es wie wilde Bestien. Soll ich das für einen Zufall halten?»
«Wohl eher nicht.»
«Wie zum Teufel kannst du mir dann vorschreiben, was ich tun soll?»
«Weil du sofort weggepustet würdest, sobald du durch diese Tür trittst.» Grant deutete mit der Hand hin. Durchs Fenster war ein Durcheinander aus zerborstenem Holz, zertrümmertem Porzellan, zerbrochenen Fotorahmen und wild auf dem Boden verstreuten Ziergegenständen zu erkennen. Vor dem chaotischen Hintergrund war der Lauf der Pistole kaum zu erkennen. Auf den ersten Blick hätte man ihn leicht für ein weiteres Trümmerteil halten können, das auf dem Boden herumlag. Nur wenn er sich leicht bewegte, fiel einem das Schimmern des Metalls ins Auge.
Marina, die im Krieg als Kundschafterin viele Stunden nach genau solchen verräterischen Zeichen Ausschau gehalten hatte, sah die Pistole sofort. «Einer von ihnen ist dageblieben.» Sie duckte sich wieder in die Senke. «Meinst du, er hat uns gesehen?»
«Falls ja, wüssten wir das jetzt schon.»
«Dann können wir ihn überraschen.» Eine Art wilder Freude leuchtete aus ihren Augen – ein Ausdruck, den er aus dem Krieg so gut kannte. Wie die Deutschen zu ihrem Schaden feststellen mussten, liebten die Kreter kaum etwas so sehr wie eine Blutfehde. «Du hast doch deinen Revolver. Ich lenke ihn an der Tür ab, dann kannst du ihn durchs Fenster abknallen.» Ein zweifelnder Ausdruck trat in ihre Augen, als sie Grant den Kopf schütteln sah. «Wieso nicht?»
«Weil jede Stunde, die er dort wartet, eine Stunde ist, in der wir uns davonmachen können.»
Sie marschierten lange dahin, auf das mächtige Gebirgsmassiv zu, das sich über den östlichen Horizont erhob. Kurz vor Sonnenuntergang stießen sie auf einer Bergweide auf eine verlassene Schäferhütte, deren vorheriger Bewohner Holz, Decken und zwei Büchsen Feldproviant zurückgelassen hatte, vermutlich noch Überbleibsel aus dem Krieg. Grant entzündete ein Feuer, und sie setzten sich mit ihren Decken davor. Unten im Tal mochte bereits Frühling sein, aber hier oben im Gebirge herrschte noch Winter. In den Senken auf der nördlichen Seite des Berges lag noch Schnee, und der Gipfel trug weiter eine weiße Mütze. Um sie herum pfiff ein kalter Wind, und Grant zog seine Decke enger um sich. Am natürlichsten wäre es gewesen, sie um sie beide zu hüllen, wie sie es in so
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