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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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aufgeschrieben hat. Steht mit dem Bild in keinem Zusammenhang.» Sie blätterte wieder zurück auf die Seite davor und betrachtete angestrengt die Zeichnung, als könnte sie so die Tränen bannen. «Die Darstellungsweise …» Sie atmete einmal tief durch. «Die Darstellungsweise scheint auf die mittlere bis späte minoische Epoche hinzudeuten. Die Zickzacklinien sind vermutlich rein dekorativ, obwohl man darin auch eine Darstellung von Wasser erblicken könnte. Das Tier ganz oben …» Sie blinzelte, hielt das Buch dichter ans Feuer. «Ein Löwe womöglich oder eine Sphinx – in beiden Fällen würde es einen Beschützer oder Hüter verkörpern. Auch Verbindungen zum Königtum sind denkbar. Die Vögel sind Tauben, was in der Regel auf die Heiligkeit eines Ortes verweist. Die Identifizierung wird in diesem Fall durch die Kultstätte in der Bildmitte gestützt.»
    «Woher weißt du, dass es eine Kultstätte ist?»
    «Die Stierhörner ganz oben. Das ist die gängige Darstellungsform minoischer Kultstätten. So wie einem ein Kreuz oben auf einem Gebäude anzeigt, dass es sich um eine Kirche handelt.»
    Marina starrte in die Flammen. Ob sie über den Sinn der Zeichnung grübelte oder an Pemberton dachte, wusste Grant nicht, aber er nahm ihr vorsorglich das Buch aus der Hand, bevor sie es ins Feuer fallen ließ. Nach einem längeren Blick auf die Zeichnung legte er sich das Buch aufs Knie und drückte die Seiten platt. Der Buchrücken knarrte wie zum Protest, und Marina blickte auf.
    «Sei doch vorsichtig.»
    «Was bedeutet …» Grant leckte sich über die Lippen, während er die unvertrauten Buchstaben entzifferte. «Pha … raggi … ton … nekron?»
    « Pharangi ton nekron? Wo steht das?»
    Grant hielt das Buch hoch, um es ihr zu zeigen. Auf das Innere der Seite, fast verborgen unter der Bindung, waren drei griechische Wörter senkrecht an die Seite der Zeichnung geschrieben. Marina riss ihm das Buch aus der Hand und betrachtete sie genauer.
    «Natürlich», murmelte sie. «Pharangi ton nekron.»
    «Wer ist das?»
    «Das ist ein Ort – ein Tal. An der Ostküste, in der Nähe eines Dorfs namens Zakros. Der Name bedeutet …» Sie dachte kurz nach. «Er bedeutet Tal der Toten.»
    «Klingt doch vielversprechend.»

FÜNF
    Tal der Toten, Kreta
    Rote Felswände ragten schroff und in der Sonne glühend über ihnen auf, doch unten im Tal spendete ein Gewirr von Platanen und Oleandersträuchern Schatten. Grant spähte hoch durch das Blattwerk, wobei er seine Augen mit der Hand vor der grellen Helligkeit beschirmte. Sie befanden sich in einer gewaltigen Schlucht, die in einer sachten Krümmung aufs Meer zuführte. Hoch oben in den Felswänden war eine Reihe dunkler Löcher zu erkennen.
    «Das sind die Gräber.» Marina trug nicht länger ihr schwarzes Kleid. Sie hatte es unterwegs in einem Dorf gegen eine ausgemusterte, khakigrüne Uniformhose und eine kurzärmelige Bluse eingetauscht, die so weit aufgeknöpft war, dass Grant immer wieder verstohlen hinschielte, wenn sie es nicht bemerkte. Ihr dunkles Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden, und nach drei Tagen Fußmarsch durchs Gebirge war ihr ungeschminktes Gesicht leuchtend braun gebrannt. Um die Schulter trug sie ein zusammengerolltes Seil.
    «In diesen Höhlen wurden schon seit minoischen Zeiten Menschen bestattet», fuhr sie fort. «Deshalb der Name Tal der Toten.»
    «Wirkt auf mich aber nicht sonderlich gruselig. Die Sonne scheint, überall blühen Wildblumen, Vögel singen.»
    «Bei den alten Griechen wurden Vögel oft als Vorboten des Todes verstanden, als Boten der Unterwelt.»
    «Oh.» Das Zwitschern und Trillern um sie herum schien plötzlich einen düsteren Unterton anzunehmen. «Hat diese Höhlen schon mal jemand erkundet?»
    «Das ist zu allen Zeiten geschehen.» Sie zog die Nase kraus. «Es dauert nie lange, bis die geheiligten Relikte einer Generation von einer anderen als Beute betrachtet werden. Ein paar unberührte Grabstätten haben Archäologen gefunden, aber die meisten sind schon seit vielen Jahrhunderten geplündert.»
    «Warum sind wir dann …»
    «Wir sind nicht wegen der Gräber hier.» Sie holte einen Zettel aus ihrer Hosentasche, eine Kopie, die sie von Pembertons Zeichnung angefertigt hatte. «Siehst du die Hörner? Wir suchen nach einer Kultstätte.»
    «Das ist nicht dasselbe?»
    «Die Minoer haben ihre Toten nicht in ihren Tempeln bestattet. Das hat es bis zur Ankunft des Christentums nie gegeben. Die

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