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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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schleuderte ihn davon in die Finsternis. Grant wartete, beobachtete dabei, wie der Feuerschein über ihr Gesicht flackerte. «Was hat das mit dem Minotauros zu tun?»
    «Damit wollte ich bloß sagen, dass die Sagen weiter überdauern, wenn alles andere längst vergessen ist. Und dass die Sagen, bei all ihren Übertreibungen, uns manchmal mehr über die Vergangenheit verraten als Mauerreste und Keramikscherben. Dreitausend Jahre lang vermutete niemand, dass es auf Kreta je eine große prähistorische Kultur gegeben haben könnte – doch in all den Jahren vergaß man nie die Geschichte von Theseus und dem Minotauros. Jedes Kind kannte sie. Dann kam Evans vor fünfzig Jahren her und ging zu dem Ort, von dem in der Sage erzählt wird. Er hat alles gefunden. Einen labyrinthartigen Palast. Trinkgefäße in Form von Stierköpfen, Stierfigürchen, Hörner aus Stein – sogar Malereien von jungen Männern, die auf den Rücken von Stieren akrobatische Kunststücke vollführten.»
    «Kein menschliches Skelett, dem ein Paar Stierhörner aus dem Schädel ragte, mit einem Garnknäuel daneben?»
    «Nein.» Sie zog ihre Knie eng an die Brust. «In Sagen und Mythen wird die Vergangenheit natürlich verzerrt. Aber hier auf Kreta gab es die allererste Hochkultur Europas – über tausend Jahre vor der Blütezeit Griechenlands und anderthalbtausend Jahre vor den römischen Kaisern. Und drei Jahrtausende lang kündeten von dieser Kultur nur noch die Mythen. Ohne diese Mythen wäre der Palast von Knossos nur eine Ansammlung von Steinhaufen. Und als Evans ihn endlich zum Vorschein brachte, nannte er seine Kultur die ‹minoische›, nach dem sagenhaften König Minos.»
    Im goldenen Feuerschein leuchtete ihr Gesicht, als könnte sie wie eine antike Seherin dreißig Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit blicken. Nicht einmal Grants fest auf sie gehefteten Blick schien sie wahrzunehmen, bis er diskret hüstelte und fragte: «Was hat das mit der Schrift in dem Notizbuch zu tun?»
    «Die Minoer haben uns noch mehr hinterlassen als nur Ruinen und Kunstgegenstände. Ihre Schrift nämlich. Es gab zwei Formen – eine primitive, die Evans Linear A taufte, und eine spätere Fortentwicklung, die er Linear B nannte. Die meisten Beispiele hat man in Tontäfelchen eingeritzt gefunden, die gebacken wurden, als der Palast niederbrannte.»
    «Und was steht darauf geschrieben?»
    «Das weiß man nicht – niemand konnte sie bisher entziffern. Sie ist eines der größten Rätsel der Archäologie.»
    Grant schaute wieder auf das Buch. «Hat Pemberton es versucht?»
    «Das versucht jeder, der auf diesem Gebiet arbeitet. Für die Archäologen war das wie ein Kreuzworträtsel oder Puzzle, mit dem man sich an Winterabenden am Kamin beschäftigte. Soweit ich weiß, ist Pemberton nie ein Durchbruch gelungen.»
    «Steht vielleicht in dem Buch etwas?»
    «Nein.» Sie blätterte ein paar Seiten durch. «Dazu ist das zu ordentlich. Er hat einige Inschriften kopiert, aber keine Übersetzungsversuche unternommen.»
    «Und was ist das?» Grant stieß einen Finger in das Buch und drückte die Seite hinunter. Über einigen Zeilen der eckigen Linearschrift B war die Seite ausgefüllt mit einer schlichten Strichzeichnung. Sie hatte beinahe etwas Kindliches: Zwei Dreiecke flankierten ein Kästchen, aus dem oben Hörner ragten, darunter verliefen zwei Reihen Zickzacklinien. Oben, in der Mitte der Seite, schien eine Art stilisiertes Tier über einer gewölbten Kuppel zu schweben, mit Vögeln zu beiden Seiten.
    «Das muss minoisch sein», murmelte Marina. «Aber ich habe es noch nie zuvor gesehen. Aus der Sammlung in Knossos stammt es jedenfalls nicht.» Sie blätterte um. Die nächste Seite enthielt nur noch sechs Zeilen in Griechisch, sonst nichts. Von da ab war die Seiten des Buches unbeschriftet.
    «Was bedeuten diese Zeilen?», fragte Grant.
Zwietracht tobt’ und Tumult ringsum, und des Jammergeschicks Ker,
Die dort lebend erhielt den Verwundeten, jenen vor Wunden Sicherte, jenen entseelt durch die Schlacht hinzog an den Füßen;
Und ihr Gewand um die Schulter war rot vom Blute der Männer.
Gleich wie lebende Menschen durchschalteten diese die Feldschlacht,
Und entzogen einander die Leichname toter Helden.
    Vielleicht lag es am Rauch, der von dem Feuer aufstieg, jedenfalls klang Marinas Stimme heiser, und Tränen standen ihr in den Augen. «Das ist Homer. Aus der Ilias . Pemberton hat sie wohl gerade gelesen, als die Nazis kamen. Es war das Letzte, was er je

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