Der vergessene Tempel
vielen kalten Nächten während des Kriegs getan hatten, doch das versuchte er erst gar nicht.
Nachdem sie gegessen hatten, holte Marina das Notizbuch heraus. Sie hielt es hoch über das Feuer, ließ die Flammen über die Seiten spielen. Grant verdrängte die jähe Furcht, dass ein verirrter Funke ihre Suche beenden könnte, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
«Zwei Monate vor der Invasion ist Pemberton nach Athen gereist. Das kam mir damals merkwürdig vor – alle wussten, dass eine deutsche Invasion bevorstand, und weil so viele Soldaten an die Front geschickt wurden, hätte er fast keinen Platz auf der Fähre gefunden. Aber er hat gesagt, er müsse hinfahren. Als er wieder zurückkam, war etwas verändert. Erzählt hat er nichts, aber es war ihm deutlich anzumerken, dass ihn irgendetwas beschäftigte. Es war immer dasselbe, wenn er eine Ausgrabungsstelle entdeckt hatte oder irgendein Artefakt, das er nicht genau zuordnen konnte. In der Villa brannte bis tief in die Nacht das Licht, und er wurde abweisend und angespannt. In diesen letzten Tagen damals waren natürlich alle angespannt, deshalb fiel uns das nicht so auf. Im April ist er ganz allein eine Woche lang verschwunden. Hinterher erfuhr ich, dass er im Osten der Insel gewesen war, bei Siteia. Er war auf der Suche nach irgendetwas.»
«Deshalb sind wir jetzt also nach Osten gegangen.»
«Ja.» Sie starrte auf das Buch, die Stirn vor Konzentration in Falten gelegt. «Falls er irgendetwas entdeckt hat, würden wir es hier finden.» Sie fuhr sich mit den Fingern durch das offene Haar. «Aber ich kann nichts finden.»
Grant rückte näher, um ihr über die Schulter zu schauen. Im Feuerschein sah er Reihen akkurat ausgeführter Symbole, so fern und unergründlich wie die Menschen, die sie zuerst entwickelt hatten. Die griechischen Buchstaben erkannte er – konnte sogar einige der einfacheren Wörter entziffern –, ein großer Teil der Seite jedoch war mit Zeichen bedeckt, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er streckte die Hand aus, wobei er Marinas Schulter streifte, und deutete darauf. «Was ist das?»
«Linear B.»
Die Bezeichnung war schon einmal gefallen, bei ihr zu Hause, bevor die beiden Männer auftauchten. «Und was ist das genau?»
«Ein Alphabet. Ein uraltes Schriftsystem. Es wurde vor etwa fünfzig Jahren in Knossos entdeckt.»
«Es ist also Griechisch?»
Sie schüttelte den Kopf. «Viel älter als Griechisch. Es kommt …» Sie spielte mit einer Haarsträhne, während sie kurz nachdachte. «Von Theseus und dem Minotauros hast du schon mal gehört?»
«Meinst du die Sage?»
Sie lachte. «Der Palast, in dem Pemberton tätig war – und auch ich –, ist der Ort, an dem Geschichte und Sage aufeinandertreffen wie ein Fluss und ein See.» Sie grub die Finger in die Erde und brachte einen kleinen Stein zum Vorschein. «Dieser Stein ist nichts. Doch wenn ich das hier mache …» Sie legte ihn auf den Kreis aus Steinen rings um die Feuerstelle. «… bekommt er auf einmal eine Bedeutung. In der Zukunft, in zweitausend Jahren vielleicht, wird irgendjemand das finden, und selbst wenn derjenige noch nie eine Feuerstelle gesehen oder sich auch nur vorgestellt hat, wird er wissen, dass ein Mensch dieses Gebilde aus einem bestimmten Grund erschaffen hat. Und er wird diesen Grund zu erraten versuchen. Vielleicht findet er Reste von Asche in der Mitte des Rings und Rußspuren auf den Steinen; vielleicht eine verrostete Blechbüchse und deine Zigarettenkippen. Und daraus wird er folgern …»
«Dass wir hier zu Abend gegessen haben?»
«Dass an diesem Ort einem primitiven Säulenkult gehuldigt wurde, fraglos mit phallischem Hintergrund. Dass der Kreis aus Steinen das Fundament einer Holzsäule war, die wir, in unserer primitiven Unwissenheit, angebetet haben. Dass wir Lebensmittel in Metallbehältern als Opfer dargebracht und diese leicht psychotomimetische Substanz geraucht haben, um in einen Zustand göttlicher Verzückung zu geraten. Man wird annehmen, dass die Asche und die Rußspuren von einem Feuer stammen, infolge einer Invasion oder eines Krieges womöglich, in dem die heilige Säule niedergebrannt wurde. Diese Erkenntnisse wird man in gelehrten Zeitschriften veröffentlichen, und dann wird man sich darüber streiten, ob die ähnlichen Stätten, die man überall auf der Insel findet, eine offizielle Religion belegen oder bloß parallele Lokaltraditionen. Und dabei ist das alles ein riesiger Trugschluss.»
Sie nahm den Stein und
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