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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Vorstellung, die Toten an Orte der Lebenden zu bringen, hätte die Alten schockiert. Zu ihrer Zeit bestattete man sie in Totenstädten – Nekropolen. In Höhlen wie diesen beispielsweise.»
    «Wo wollen wir nach diesem Tempel suchen?»
    Marina dachte kurz nach. «Hogarth – ein weiterer Archäologe – hat 1901 am Ausgang der Schlucht Ausgrabungen durchgeführt. Er fand ein paar minoische Häuser, aber keine Kultstätte.»
    «Vielleicht hat Pemberton ja etwas gefunden, was dieser Hogarth übersehen hat.» Grant nahm Marina die Zeichnung aus der Hand und betrachtete sie blinzelnd. «Du hast gesagt, die Zickzacklinien könnten Wasser darstellen?»
    «Oder sie sind rein dekorativ. Das lässt sich unmöglich …»
    «Schau mal.» Grant hielt den Zettel in die Höhe und deutete das Tal hinunter. «Diese beiden Dreiecke links und rechts – das sind die Seiten der Schlucht. Vor ihnen haben wir das Meer. Und hier» – er tippte mit dem Finger auf die Bildmitte – «ist der Tempel.»
    Marina sah ihn zweifelnd an. «Ich glaube kaum, dass die Minoer räumliche Beziehungen in ihrer Kunst derart dargestellt haben.»
    «Unsinn. Sie haben es gezeichnet, wie sie es gesehen haben.»
    «Ach ja?» Ihr Ton wurde schärfer. «Und woher willst du wissen, wie sie vor so vielen Jahrtausenden die Welt gesehen haben? Und apropos, wie erklärst du dann den in der Luft schwebenden Löwen? Haben sie den auch so gezeichnet, wie sie ihn gesehen haben?»
    «Vielleicht ist das ja bloß eine Wolke.»
    «Und die Kuppel darunter? Ein Regenbogen womöglich?»
    «Hast du eine bessere Idee?»
    Sie seufzte. «Nein.»
    Doch Grants Sieg war nur von kurzer Dauer. Die Schlucht endete fast eine halbe Meile vor der Küste, ging in ein paar staubige Ackerflächen über.
    «Die Ruinen, die Hogarth gefunden hat, müssen sich hier irgendwo in der Gegend befinden», stellte Marina entnervt fest. Sie warf einen weiteren Blick auf die Skizze. «Was hat Pemberton hier gesehen, das ihn an das Tal der Toten erinnerte?»
    Auf einem der Felder zog ein magerer Ochse einen Pflug über die trockene Erde. Neben ihm stand ein Bauer in Tweedjackett und trieb ihn mit Stockhieben gegen die Flanke vorwärts, während eine stämmige Frau mit Kopftuch zusah. Beide blickten Marina und Grant schweigend entgegen, als sie auf sie zukamen.
    «Kalimera sas», sagte Marina.
    «Kalimera.» Der Bauer lehnte sich auf seinen Stock und starrte sie an. Seine Frau neben ihm musterte Marina mit einem Blick, als wäre sie gerade von einer Pariser Revuebühne gestiegen.
    Ein wenig stockend trug Marina ihre Frage vor. Grant hätte dem Gespräch vermutlich folgen können, dazu verstand er ausreichend Griechisch, aber er hörte gar nicht zu. Etwas beunruhigte ihn. Pemberton hatte «Tal der Toten» an den Rand seiner Skizze geschrieben, doch dies hier war nicht das Tal. Er drehte sich um und blickte erneut die Schlucht hinauf. Sie beschrieb eine Krümmung nach links, sodass es von Grants Standort aus so wirkte, als würde das Tal an der Krümmung abrupt in eine schroffe Felswand münden. Und dort, scheinbar direkt über der Mitte der Schlucht, erhob sich ein Hügel mit runder Kuppe.
    «Er sagt, sie hätten nie jemanden gesehen.»
    «Was?»
    Unvermittelt aus seinen Gedanken gerissen, wandte Grant sich um. Auf dem Feld gegenüber stand der Bauer weiterhin reglos da und beobachtete sie. Seine Frau hatte sich umgewandt und trieb jetzt demonstrativ den Ochsen vorwärts.
    «Der Bauer. Er sagt, sie hätten hier nie einen britischen Archäologen gesehen. Möglicherweise lügt er – seit ihr angefangen habt, die Marionettenregierung in Athen zu stützen, sind die Briten hier nicht mehr allzu beliebt.»
    «Damit habe ich nichts zu tun», verwahrte sich Grant. «Aber dreh dich mal um.»
    Marina folgte seiner Aufforderung. «Was denn?»
    «Das ist die Ansicht.» Der Zettel flatterte im Wind, während Grant ihn in die Höhe hielt, direkt vor die Landschaft. «Die Felswände zu beiden Seiten, das Meer an diesem Ende und der Hügel in der Mitte des Tals.» Hoch über dem abgerundeten Gipfel schwebte ein Falke am Himmel. «Sogar die Vögel haben wir hier.»
    «Und der fliegende Löwe?»
    «Der schläft.» Grant grinste. «Schauen wir mal, ob wir ihn wecken können.»

    Sie bahnten sich einen Weg durch Bäume und in die Tiefe gestürzte Felsbrocken, die überall in dem vertrockneten Flussbett herumlagen. In der Schlucht, zwischen den hoch aufragenden Felswänden, verloren sie den Gipfel bald aus den Augen, aber

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