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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Russe hatte ihn auf den Rücken gedreht und drückte Grants Gesicht in die Brandung.
    Aber das Blatt hatte sich gewendet; jetzt lief die Zeit gegen den Russen. Nach einem letzten Hieb in Grants Nieren ließ er von ihm ab und watete davon, aufs Boot zu. Grant rappelte sich auf und spuckte Meerwasser aus. Reed hinter ihm war völlig außer sich, schrie mit sich überschlagender Stimme:
    «Halten Sie ihn auf! Er hat die Tafel .»
    Der Russe hatte mittlerweile das Boot erreicht und versuchte, sich hineinzuhieven. Keuchend raffte Grant sich zu einer letzten Anstrengung auf. Nicht weit weg von ihm schimmerte Metall im Mondlicht, wo die Brandung über die Pistole des Russen spülte. Grant klaubte sie auf und zielte.
    «Halt!», brüllte er.
    Der Russe drehte sich um, eine Hand an den Bootsrand geklammert. Mit der anderen griff er in seine Jacke.
    «Keine Bewegung!»
    Plötzlich waren Schüsse zu hören. Der Russe stieß einen Schrei aus, ließ dann das Boot los und glitt leblos hinab in die Wellen. Grant fuhr herum. Am Strand hinter ihm stand Marina, die Beine leicht auseinandergestellt, beide Hände um eine Pistole gelegt. Obwohl sie hergerannt sein musste, wirkte sie ruhig und beherrscht.
    «Warum hast du das getan, verflucht?»
    «Er wollte gerade eine Waffe ziehen.»
    «Ich habe ihn doch in Schach gehalten.» Grant watete zu dem im Wasser treibenden Russen hinaus und zerrte ihn dann hinter sich her. Er hievte ihn an Land und ließ ihn in den Sand fallen. Eine Krabbe huschte erschrocken davon.
    «Überhaupt, wo warst du denn? Und wie kommt es, dass du gerade noch rechtzeitig hier auftauchst?»
    Sie senkte den Blick. «Ich konnte nicht schlafen; da bin ich spazieren gegangen. Als ich die Schüsse hörte, bin ich umgekehrt und habe Muir gefunden.»
    «Wäre schön gewesen, wenn du etwas früher gekommen wärst. Die hätten uns da oben fast umgebracht.»
    «Ich weiß. Es tut mir leid.»
    «Und die Pistole?»
    «Die habe ich Muir abgenommen. Er war nicht mehr in der Lage, sie zu benutzen. – Aber er lebt.»
    Grant schüttelte den Kopf und blickte hinab auf den Toten. Es war ein gedrungener, stämmiger Mann mit breiten Wangenknochen und nun für alle Zeiten grimmig nach unten verzogenem Mund. Grant durchsuchte rasch seine durchnässten Taschen. Eine Brieftasche oder ein Ausweis fand sich nicht, bloß ein Taschenmesser, ein paar Drachmen in Münzen und ein aufgeweichtes Etwas aus brauner Pappe, das einst eine Packung Zigaretten gewesen war.
    «Was können die von uns gewollt haben?»
    «Das hier womöglich.» Grant griff in die letzte Tasche und merkte, wie seine Finger sich um das Täfelchen aus Ton schlossen. Glücklicherweise hatte Marina es nicht beschädigt, als sie auf den Mann schoss. Er zog es heraus, wischte mit dem Ärmel darüber und reichte es an Reed weiter. «Was die auch gewollt haben mögen, sie wussten jedenfalls genau, wo sie es finden konnten.»

NEUN
    Myrina, Lemnos. Am Abend darauf
    Grant stand auf dem Hotelbalkon und atmete die Nachtluft ein. Vor ihm funkelten die Lichter des Hafens so klar wie Sterne, jedes mit einem verzerrten Spiegelbild, das auf dem Wasser schwamm. Er kam sich vor wie jemand, der allein anhand dieser Spiegelbilder zu navigieren versuchte.
    «Was machen wir jetzt?»
    Grant wandte sich um. Die Fensterläden standen offen, das in nikotingelbes Licht getauchte Zimmer hinter ihm wirkte wie ein gerahmtes Gemälde. Reed saß auf einem Sessel neben der Kommode und starrte wie hypnotisiert zum Deckenventilator, während Marina am Bettende saß und den Ärmel einer Bluse stopfte. Muir lag hinter ihr, einen dicken Stapel Kissen im Rücken, eine Zigarette zwischen den missmutig verzogenen Lippen. Eins seiner Hosenbeine war hochgekrempelt bis zum Knie, der Unterschenkel darunter dick verbunden – doch der Arzt, der ihn behandelt hatte, konnte ihn beruhigen: Die Kugel hatte keinen nennenswerten Schaden angerichtet.
    Die Frage hing unbeantwortet in der verqualmten Luft. Sie hatten an jenem Tag nicht viel geredet. Nach der Schießerei hatte keiner mehr geschlafen. Sie hatten den Rest der Nacht beisammengesessen, waren jedes Mal zusammengezuckt, wenn ein Zweig raschelte oder die Brandung lauter ging. Bei Morgengrauen hatten sie die toten Russen eingesammelt und in ihrem Boot, das sie mit großen Steinen beschwerten, in der Bucht versenkt. Danach hatten sie sich an den Strand gesetzt, um auf den Fischer zu warten. Zu Grants großer Überraschung war er sogar gekommen.
    Muir aschte in den Aschenbecher

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