Der vergessene Tempel
einem Kampf ihren Mann stehen. Gestern Nacht am Strand hat sie uns vermutlich das Leben gerettet.»
«Seien Sie nicht so naiv. Sie hat diesen Russen nur umgelegt, weil das ihr letzter Ausweg war. Wäre er uns in die Hände geraten, hätte er uns die Wahrheit über sie erzählt.»
Grant schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht. Sie hätte stattdessen auch mich erschießen können. Sie waren außer Gefecht gesetzt. Reed war unbewaffnet, der Russe hatte das Täfelchen. Sie hätten zusammen in das Boot springen können und wären jetzt schon halb in Moskau.»
Ein Stuhl scharrte laut über den Boden. Reed war aufgestanden – und blinzelte verlegen, als ihn zwei Augenpaare aufgebracht anschauten. «Ich, äh, dachte mir, ich gehe mal an die frische Luft.»
«Nein, das tun Sie nicht, verdammt. Wir haben Sie dieses Wochenende schon einmal fast verloren. Wir wissen nicht, was da draußen für Strolche lauern.» Muir deutete aus dem Fenster. Die Straße unten war erfüllt von Lärm und flackerndem Licht, während die Bewohner des Städtchens zur mitternächtlichen Ostermesse strömten.
«Ich begleite ihn.» Auch Grant sehnte sich danach, der dumpfen, gehässigen Stimmung im Zimmer zu entkommen.
«Halten Sie die Augen offen. Besonders, weil Marina da draußen herumläuft.»
Grant schnallte sich das Halfter mit dem Webley um und streifte dann eine Jacke über, um es zu verdecken. «Wir werden vorsichtig sein.»
Die frische Luft war eine Wohltat. Sie blieben ein paar Minuten auf der Veranda des Hotels stehen und atmeten sie in tiefen Zügen ein, ohne ein Wort zu wechseln. Ein festes Ziel hatten sie nicht, und als sie auf die Straße traten, wurden sie sofort vom Strom der Menge erfasst und mit davongetragen. Überall sah man festlich gekleidete Menschen: Väter in dreiteiligen Anzügen, mochten sie noch so abgetragen sein; Mütter in hochhackigen Schuhen, die Kinder mit sauber geschrubbten Gesichtern und ordentlichen Zöpfchen neben sich herzogen. Alle, bis hin zum kleinsten Kind, trugen lange weiße Kerzen in den Händen.
«Hoffentlich geht es Marina gut», sagte Reed. «Sie schien ziemlich aufgewühlt wegen ihres Bruders.»
«Völlig zu Recht. Wir haben ihn umgebracht.»
«Oh.» Reed verzog das Gesicht und stellte keine weiteren Fragen. Nach kurzem Schweigen sagte er: «Für Sie ist das alles wohl nichts Besonderes, nehme ich an. Nächtliche Überfälle. Russische Agenten, die einen zu entführen versuchen. Leute mit Schusswaffen, Tote.»
«Nichts Besonderes?» Grant lachte. «Kann schon sein. Man gewöhnt sich dran.»
«Es ist sonderbar. In gewisser Weise habe ich mich mein Leben lang mit Krieg beschäftigt. Homer», setzte Reed erklärend hinzu, als Grant ihn verwundert ansah.
«Haben Sie nicht gesagt, das sei ein Märchen?»
«Einige der Geschichten schon. Aber Homer …» Reed hielt mit halbgeschlossenen Augen inne, als würde er einen besonders guten Wein kosten. «Er sorgt dafür, dass sie wieder Wahrheit enthalten. Nicht Wahrheit im faktischen Sinne – obwohl seine Gedichte weit weniger phantastisch sind als die meisten späteren Versionen. Ich meine die poetische Wahrheit.»
«Glauben Sie nicht alles, was in den Zeitungen steht, Herr Professor. Krieg ist keine besonders poetische Angelegenheit.»
«‹Mein Thema ist der Krieg, und das Mitleid des Krieges. Die Poesie liegt im Mitleid.›»
«Wilfred Owen war ein hoffnungsloser Romantiker. Viel Mitleid gibt es im Krieg auch nicht. Das zumindest hat mich mein Vater gelehrt.»
Zurückhaltend, wie es einem Oxford-Professor alter Schule entsprach, verzichtete Reed darauf, das Thema zu vertiefen. Schweigend setzten sie ihren Weg mit der Menge zusammen fort, durch die Gassen und auf die Kirche zu, die auf der Landzunge am Ende der Bucht stand. Das Aufblitzen des Feuerwerks am Himmel hatte etwas von einem fernen Gewitter.
«Es war der Geruch, wissen Sie.»
«Verzeihung?» Durch Reeds plötzliche Bemerkung aus seinen Gedanken gerissen, hob Grant den Blick.
«Die Geschichte, auf die Miss Papagiannopoulou …»
«Sagen Sie einfach Marina», fiel Grant ihm ins Wort. «Damit sparen Sie Jahre Ihres Lebens.»
«Die Geschichte, auf die sie angespielt hat. Die Frauen von Lemnos haben ihre Männer nicht einfach spontan umgebracht, sondern weil sie verschmäht worden waren. Wegen eines Fluchs. Sie hatten Aphrodite verärgert und wurden mit fürchterlichem Mundgeruch gestraft, deshalb weigerten sich ihre Männer, sie zu küssen. Oder ihnen, äh, andere
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