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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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tropfte.
    «Fühlen Sie sich nicht wohl?»
    Grant grinste verlegen. «Nur ein wenig verwirrt. Mir ist nicht ganz klar, ob ich meine Sünden fortbrenne, Sühne für diese gattenmörderischen Frauen tue, Jesus die Ehre erweise oder Pratolaos heraufbeschwöre.»
    Reed lächelte. «Jetzt kommen Sie der Sache langsam näher. Aber Sie dürfen das Feuer nicht selbstsüchtig für sich behalten. Sie müssen es weiterreichen.»
    Grant wandte sich um. Das Feuer hatte sich bereits hinter ihm weiterverbreitet: Die meisten Kerzen dort brannten schon. Eine aber war offenbar übersehen worden. Er streckte die Hand aus. Die beiden Kerzen stießen ein paarmal zusammen, vollführten eine ungeschickte Art von Balztanz, bis sie sich endlich lange genug trafen und die Flamme zwischen ihnen übersprang.
    «Christi anesthu», murmelte Grant.
    Sie zog ihre Kerze zurück und hielt sie vor sich in die Höhe. Orangegelbes Licht schien ihr ins Gesicht, und die Flamme spiegelte sich in ihren Augen wider.
    «Marina?» Grant hätte um ein Haar seine Kerze fallen gelassen. «Lieber Herr Jesus!»
    «… er ist wirklich auferstanden.» Sie wandte sich ab; Grant hob halb die Hand, doch sie reichte bloß das Feuer an den Mann hinter ihr weiter. Nachdem das erledigt war, drehte sie sich wieder zu ihm um. Sie hatte offenbar geweint, und selbst inmitten der Menschenmenge wirkte sie seltsam unentschieden und verletzlich, als wüsste sie nicht, ob sie ihm ins Gesicht spucken oder davonlaufen sollte.
    «Tut mir leid wegen Muir», sagte Grant. «Er ist … er ist ein Arschloch.»
    «Ich habe euch nicht an die Russen verraten.» Ihre Stimme klang spröde.
    «Das habe ich auch nie gesagt. Aber warum Muir nervös ist, kann man verstehen. Irgendjemand muss den Russen verraten haben, wo wir sind. Und es ist ein Jammer, dass du den Russen erschossen hast. Es wäre nützlich gewesen, herauszufinden, was er wusste.»
    Er warf ihr einen Blick von der Seite zu, worauf sie ihn aufgebracht anfunkelte. «In seiner Jacke beulte sich etwas aus, und er griff danach. Was hättest du denn gemacht?»
    «Das war das Täfelchen.»
    «Dann kann man ja von Glück sagen, dass ich es nicht getroffen habe.»
    Er streckte zaghaft die Hand aus und strich eine Haarsträhne beiseite, die ihr über die Wange gefallen war. Sie ließ es geschehen.
    «Aber Muir ist jetzt nicht mehr wichtig.» Ein Windzug fuhr durch die Menge, und Grant hielt schützend die Hand um seine Kerze. «In diesem Heiligtum befindet sich nichts. Diese Spur war dreitausend Jahre alt, bevor wir sie aufgenommen haben. Die ist nicht nur kalt, sie ist in den Tiefen der Zeit zu Eis erstarrt. Dann können wir jetzt ebenso gut aufgeben und nach Kreta zurückkehren.»
    Ein diskretes Hüsteln hinter ihnen veranlasste Grant und Marina, sich umzudrehen. Reed lächelte sie ein wenig verlegen an. Mit der Kerze in seiner Hand sah er fast aus wie ein Chorknabe am Heiligabend. «Also ich bin ja der Auffassung, die Spur wird langsam wärmer.»
    Grant und Marina starrten ihn verblüfft an. «Wieso das?»
    Reed tippte sich mit dem Finger seitlich an die Nase. «Der Schlüssel liegt in den alten Geschichten.» Er lächelte. «Man muss bloß seiner Nase folgen.»

ZEHN
    Therma, Lemnos. Am nächsten Morgen
    «Sind Sie ganz sicher, dass wir hier richtig sind?»
    Sie standen in einer flachen Talmulde am Ende einer ungepflasterten Landstraße. Es war ein hübsches Fleckchen: Pappeln und Zypressen säumten den Bach, der durch das Tal murmelte, und vor ihnen erhob sich ein gepflegtes, quadratisches Gebäude in klassizistischem Stil. Mit seinem rotgedeckten Dach und den blendend weißen Mauern, den frischgestrichenen Türen und den gestärkten Gardinen erinnerte es Grant irgendwie an die Schweiz. Alles machte einen gesunden und wohlgeordneten Eindruck. Alles – bis auf den Geruch, der das Tal erfüllte; ein an faule Eier erinnernder, durchdringender Gestank von Schwefel.
    «Dass ich sicher bin, will ich nicht behaupten», sagte Reed. Er klang unerklärlich aufgeräumt. «Aber hier befinden sich die heißen Quellen. Keine Ahnung, warum ich nicht eher darauf gekommen bin. Die Quellen werden mindestens seit römischen Zeiten genutzt.»
    «Ich sage es Ihnen ja wirklich ungern, aber eine heiße Quelle ist nicht dasselbe wie ein Vulkan. Sogar den Menschen der Antike dürfte der Unterschied bekannt gewesen sein.»
    Reed zuckte mit den Schultern. «All die Legenden über die übelriechenden Lemnier werden auf eine Art kollektive Erinnerung

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