Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
Vom Netzwerk:
eheliche Gefälligkeiten zu erweisen. Deswegen haben sie die Männer umgebracht.»
    «Was das Problem nicht unbedingt löst.»
    «Das haben sie dann auch festgestellt. Ein paar Monate später kam Jason mit den Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies auf die Insel. Die Frauen setzten ihnen praktisch die Speere auf die Brust, bis die Argonauten ihnen zu Diensten waren.»
    «Muss ja ein hartes Leben gewesen sein, als Argonaut.»
    «Hm?» Reed hörte gar nicht richtig zu. «Schon kurios, wie all diese alten Geschichten über Lemnos sich um Gerüche drehen. Philoktetes und seine stinkende Wunde, die Frauen mit ihrem Mundgeruch. Beinahe so, als hätten die Bewohner von Lemnos einen gewissen Ruf gehabt.»
    Sie waren am Ende der Landzunge angekommen, und er verstummte, ganz in seinen Gedanken versunken. Vor ihnen erhob sich eine wuchtige, weißgetünchte Kirche – die allerdings so dicht von Menschen umlagert war, dass sie nicht näher herankamen. Aus dem Inneren konnte Grant ganz schwach die Stimmen der Priester hören, die gerade die Osterlitanei sangen, wobei ihnen jedoch niemand viel Beachtung zu schenken schien. Kinder spielten zwischen  den Beinen der Großen Fangen, während die Erwachsenen einander begrüßten und leise miteinander schwatzten.
    «Nicht gerade wie in der anglikanischen Kirche, oder?» Reed grinste.
    Ein fliegender Händler mit Kerzen, die ihm wie Zwiebeln paarweise von den Armen hingen, kam auf sie zu. Grant hätte ihn wohl weitergescheucht, aber Reed winkte ihn heran und kaufte ihm, nach kurzem Feilschen, zwei Kerzen ab. Eine davon reichte er Grant. «Die Griechen sagen, wenn man sie niederbrennen lässt, brennt sie die Sünden mit fort, die man auf sich geladen hat.»
    Grant betrachtete blinzelnd die dünne Kerze. «Gibt es die auch noch in größer?»
    Auf einmal senkte sich Stille über die Menge. Oben auf dem Hügel tauchte ein kleines Licht in der Kirchentür auf. Nach kurzem Flackern hatte es sich in zwei geteilt, teilte sich dann wieder und wieder, vervielfachte sich von Kerze zu Kerze, während es durch die Menge gereicht wurde.
    «Das ursprüngliche Licht stammt aus Jerusalem», flüsterte Reed. «Jedes Jahr kriecht der Patriarch von Jerusalem in das Heilige Grab – das Grab Christi –, und ein heiliges Feuer entzündet sich von selbst in der Luft. Der Patriarch nimmt es mit einer Kerze auf und reicht die Flamme an seine Gemeinde weiter.»
    «Hört sich nach faulem Zauber an. Er hat vermutlich ein Feuerzeug in der Hosentasche.»
    «Mag sein.» Wieder schien Reed alles außer seinen eigenen Gedanken auszublenden. «Trotzdem ein außerordentlicher Gedanke, dass die Inselbewohner in der Antike einst auf das Schiff mit dem heiligen Feuer gewartet haben. Und heute, dreitausend Jahre später, tun wir hier genau dasselbe.»
    Grant versuchte sich zu erinnern. In der letzten Woche hatte er mehr über Geschichte gelernt als in den gesamten dreißig Jahren seines Lebens davor. «Sie meinen das Feuerritual? Das, bei dem sie neun Tage lang kein einziges Licht brennen ließen?»
    «Ganz recht. Einer Quelle zufolge diente das Ritual interessanterweise dazu, die Insel nach der Episode, die ich ihnen soeben erzählt habe, zu reinigen. Die Finsternis war eine Zeit der Buße, ein symbolischer Tod, um für den historischen Mord an den Männern Sühne zu tun. Dann traf das Licht auf der Insel ein, als Symbol für neues Leben und Wiedergeburt.»
    «Pratolaos.» Der Name fiel Grant ganz spontan wieder ein. «Der erste Mensch, wiedergeboren in einer Höhle.»
    «Nicht so verschieden von einem anderen Mann, der in einer Höhle beerdigt wurde und ins Leben zurückkehrte.» Reed verstummte, als der Mann vor ihm, ein stämmiger Bauer in einem schlechtsitzenden Anzug, sich umwandte. Grant machte sich auf einen Rüffel gefasst, aber der Mann streckte nur lächelnd seine Kerze vor, hielt sie leicht schräg an Reeds Kerze. Die Dochte berührten sich; dann flammte auch Reeds Kerze auf, und ein Tropfen Wachs rann an ihr hinunter, auf seine Finger zu.
    «Christos anesthi», sagte der Bauer. Christus ist auferstanden .
    «Alithos anesthi», erwiderte Reed. Er ist wirklich auferstanden . Der Gruß und sein Gegengruß wurden um sie herum durch die Menge geflüstert, wie Motten in einer Sommernacht. Er wandte sich zu Grant um und bot ihm die Flamme an. «Christos anesthi.»
    «Wenn Sie das sagen.» Grant entzündete seine Kerze und hielt sie vorsichtig von sich weg, damit ihm kein Wachs auf die Schuhe

Weitere Kostenlose Bücher