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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Finger an der schartigen Kante entlang, wo es durchgebrochen worden war. «So etwa zur Hälfte, grob gesagt.»
    «Soll das heißen, da fehlt noch was?» Muir knallte seine Tasse auf den Tisch. Tee schwappte auf den Unterteller. «Wie zum Teufel sollen wir das finden?»
    «Indem wir herausbekommen, wo dieses Stück herstammt.» Reed legte das Täfelchen wieder auf den Tisch und verbarg es unter seiner Serviette, um es vor den Blicken anderer Gäste zu schützen. «Ein so bedeutendes Stück hat nicht hundert Jahre lang vergessen auf irgendeinem Dachboden gelegen. Ich würde vermuten, dass es vor Kriegsausbruch ausgegraben wurde, kurz bevor Pemberton es gefunden hat. Bei all den Wirren damals wäre es nicht verwunderlich, wenn es der Beachtung entgangen wäre – oder seinen Weg auf den Schwarzmarkt gefunden hätte.»
    Grant runzelte die Stirn. «Trotzdem könnte es doch zufällig gefunden worden sein. Von einem Bauern, der sein Feld pflügte oder so. Vielleicht auch von Grabräubern.»
    «Unwahrscheinlich. Von allen Tafeln mit Linear B, die zum Vorschein gekommen sind, wurde meines Wissens keine je per Zufall gefunden. Was auf diesen Tafeln auch zu lesen sein mag, sie waren ziemlich exklusive Spielsachen. Man hat sie immer nur in Palastkomplexen gefunden – und deren Ausgrabung bedarf schon einiger Mühen.» Reed wandte sich Marina zu. «Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mal ins Kulturministerium gehen könnten. Um festzustellen, wer alles in den Jahren 1940 und 1941 Grabungserlaubnisse erhalten hat. Die halbe Welt hat damals Krieg geführt, allzu viele dürften es also nicht gewesen sein.»
    Er stand auf und nahm das Täfelchen mitsamt der Serviette an sich.
    «Wo wollen Sie damit hin?», fragte Muir argwöhnisch.
    «In mein Zimmer, und dann in die Bibliothek.»
    «Ich komme mit.» Marina sprang auf und verschwand zusammen mit Reed ins Hotel. Grant schwenkte sein Glas, in dem sich nur noch ein Rest Bier befand, und trank es dann aus. Ihm gegenüber beobachtete Muir über seine Schulter hinweg, wie das Wasserflugzeug am Dock anlegte. Ein Hüne in weißer Hose und weißem, oben aufgeknöpftem Hemd sprang aus der Kabine und fing an, lebhaft auf die Angestellten des Jachthafens einzureden.
    «Sie sollten Reed besser begleiten.» Muir drehte sich wieder zu ihm um. «In Athen dürfte es von Roten nur so wimmeln. Unser Professor soll doch nicht in die falschen Hände geraten. Und besorgen Sie sich einen Anzug. Momentan sehen Sie ja aus wie der letzte Kuli.»
    Grant überging die Beleidigung. «Meinen Sie wirklich, er schafft das? Diese Linear B zu entziffern?»
    Muir warf Grant einen verschlagenen Blick zu, wog seine Worte sorgfältig ab. «Er war im Krieg für uns tätig, hat Codes entschlüsselt. Da bin ich ihm das erste Mal begegnet. Das ist übrigens vertraulich, wir verstehen uns. Er mag ja wirken wie einer komischen Oper entsprungen, aber er ist ein echtes Genie, da gibt’s kein Vertun. Den Code des ungarischen Außenministeriums etwa hat er innerhalb von drei Tagen geknackt.»
    «War das ein schwieriger Code?»
    Muir lachte sarkastisch. «Keine Ahnung. Der Punkt ist, er spricht kein Wort Ungarisch.»

    Grant holte Reed und Marina kurz hinter dem Hotelausgang ein, und zusammen nahmen sie die Straßenbahn in die Innenstadt von Athen. Marina hatte ihre Militärkluft gegen ein schlichtes, in der Taille gerafftes blaues Kleid eingetauscht. Mit sittsam zusammengedrückten Knien saß sie da, die Haare zurückgesteckt, die Handtasche auf dem Schoß: eine ganz gewöhnliche junge Frau, wie es schien, unterwegs zu einem Einkaufsbummel oder ins Kino. Reed starrte aus dem Fenster auf die vorüberziehende Stadt. Ein offener Lastwagen voll bewaffneter Soldaten überholte sie; Frauen mit grimmig verschlossenen Gesichtern zogen ihre Kinder von der Straße zurück. Mochte der Krieg im restlichen Europa auch vorüber sein, in Griechenland schwelte weiter ein leiser, aber grausamer Bürgerkrieg.
    «Wer war dieser Schliemann?», fragte Grant, als ihm der Name wieder einfiel, den Reed in der Höhle erwähnt hatte.
    Reed schaute ihn überrascht an. «Schliemann? Ein Archäologe. Der Archäologe überhaupt, besser gesagt. Er hat die Disziplin praktisch erfunden – einfach so, indem er improvisiert hat.»
    Marina spitzte zweifelnd die Lippen. «Das war aber nicht das Einzige, was er erfunden hat.»
    «Marina spielt hier wohl auf seinen, nun ja, mitunter übergroßen Eifer an. Schliemann hat, wie ich schon erwähnte, fest an den

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