Der vergessene Tempel
eines großen weißen Gebäudes in klassizistischem Stil, etwas versetzt von der Straße und inmitten eines weitläufigen Anwesens, das von einer hohen Steinmauer umgeben war. Auf einer Messingplatte am Torpfeiler stand zu lesen: THE BRITISH SCHOOL AT ATHENS.
«Wirkt ja ziemlich verschlafen, der Laden. Hätten auch gleich ein Bitte nicht stören- Schildans Tor hängen können.»
«Die meisten Angestellten sind wahrscheinlich in den Osterferien. Aber wenn wir Glück haben …» Reed drückte mit Feuereifer auf den Klingelknopf, bis aus dem Haus eine junge Frau in einem Jerseykleid zum Vorschein kam. Sie musterte sie argwöhnisch – Reed in seinem altmodischen Anzug und mit Sonnenhut, Grant hemdsärmelig und in Stiefeln –, aber Reeds Name wirkte wie ein Sesam-öffne-dich. Kaum hatte sie ihn vernommen, wich ihre Feindseligkeit einer Art andächtiger Ehrfurcht. Sie öffnete ihnen das Tor und führte sie einen Hügel hinauf, durch einen Garten voller Olivenbäume, Kiefern, Zypressen und Oleander und schließlich in ein kühles Vestibül mit hoher Decke.
«Leider ist der Herr Direktor heute nicht da, sonst hätte er Sie persönlich in Empfang genommen. Ihr Besuch wäre ihm eine solche Ehre, Professor Reed. Wenn Sie sich bitte ins Gästebuch eintragen würden.» Sie schob das Buch über den Tisch und hielt ihm einen Stift entgegen. Reed unterschrieb schwungvoll und gab den Stift dann an Grant weiter.
«Müssen sich hier alle Besucher eintragen?» Grant krakelte einen unleserlichen Schnörkel unter Reeds Namen, eine kleine Vorsichtsmaßnahme, die ihm zur Gewohnheit geworden war.
«Selbstverständlich. Sogar besonders geschätzte Gäste.» Sie lächelte Reed um Verzeihung heischend an.
«Dürfte ich mal einen Blick hineinwerfen?»
Grant blätterte in dem Buch zurück. Es wirkte selbst wie ein Ausstellungsstück, ein Relikt der Vergangenheit, das abgestaubt und wieder ins Regal gestellt worden war. Auf jeder Seite befanden sich Reihen von Namen und Daten, deren regelmäßige Abstände nichts von den unregelmäßigen Zeitsprüngen ahnen ließen, die sich in ihnen manifestierten. Manchmal standen neben einem einzigen Datum ein Dutzend oder mehr Namen; häufiger noch aber vergingen Tage oder gar Wochen, bis wieder ein Eintrag in das Buch erfolgte. Dann, nur einmal, etwas anderes: zwei säuberlich mit Lineal quer über die Seite gezogene Striche, einer Narbe gleich, die den April 1941 vom Januar 1945 trennten. Vier Jahre , dachte Grant. Vier Jahre, in denen die Welt ihr Möglichstes getan hatte, sich selbst zu zerreißen. All das enthalten in dem weißen Raum zwischen zwei parallelen Strichen.
Auf der Seite vor der Trennung fand Grant, wonach er gesucht hatte. Er drehte das Buch herum, um es Reed zu zeigen. «Pemberton war hier: am 21. März 1941.»
«Sie kannten John Pemberton?»
«Wir sind uns einmal begegnet. Waren Sie damals hier?»
Sie schüttelte den Kopf. «Die meisten von uns sind erst nach dem Krieg hergekommen.»
Grant dachte kurz nach. «Ich habe gehört, dass diese Einrichtung Pembertons Ausgrabungen auf Kreta finanziert hat. Besitzen Sie Aufzeichnungen über seine Ausgaben?»
Die junge Frau schien von seiner Frage ganz überrumpelt. Sie warf Reed einen unsicheren Blick zu, worauf dieser ihr beruhigend zunickte. «Ich kann für Sie nachsehen. Das könnte ein bisschen dauern. Falls wir Aufzeichnungen dazu haben, dürften die wahrscheinlich im Keller lagern.»
«Wir warten so lange in der Bibliothek.»
Bibliotheken waren nie so recht Grants Fall gewesen; Reed hingegen war in seinem Element. Während Grant in einem Sessel am Fenster eine drei Wochen alte Ausgabe der Times überflog, huschte Reed wie ein Vogel beim Nestbau zwischen den Regalen umher, sammelte Bücher und stapelte sie auf dem Tisch auf. Grant warf einen Blick auf die goldenen Lettern auf ihren Rücken: Über das Baskische zum Minoischen; Ein Schlüssel zu den kretischen Schriften; Der Palast des Minos von A. J. Evans, in vier voluminösen Bänden. Grant sank der Mut. Auf dem Tisch stapelten sich mehr Bücher, als man in einem Jahr durchlesen konnte.
«Wollen Sie die wirklich alle lesen?»
Reeds Kopf tauchte hinter einem dicken Band auf, der besonders einschüchternd wirkte. «Schon möglich. An diesem speziellen Rätsel knobeln Menschen jetzt seit fünfzig Jahren herum. Im Vergleich dazu wirkt Ultra in mancher Hinsicht wie ein Feiertags-Kreuzworträtsel.»
«Ultra?»
Reed errötete bis an die Wurzeln seiner schneeweißen Haare.
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