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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Wahrheitsgehalt Homers geglaubt. Ein Romantiker. Aber er hatte auch einen Hang zur Selbstdarstellung. Schon möglich, dass die Art, wie er seine Entdeckungen präsentierte, gelegentlich von seinen vorgefassten Meinungen und seinem Sinn für Theatralik beeinflusst wurde.»
    «Es wurde gemunkelt, die Hälfte der Schätze, die er gefunden hat, hätte er selbst vor Ort platziert», warf Marina ungehalten ein.
    Reed winkte gelassen ab. «Ach, das sind Kleinigkeiten. Die gewaltigen Mauern Trojas oder das Löwentor in Mykene hat er nicht selbst platziert. Sosehr man seine Methoden auch missbilligen und seine Deutungen anzweifeln mag, seine Leistung ist unbestritten. Er hat den Trojanischen Krieg aus dem Reich der Mythen gerettet und als Tatsache in die wirkliche Welt zurückgeholt.»
    Grant starrte ihn an. «Wenn aber Schliemann bewiesen hat, dass die Geschichten wahr sind, warum haben Sie dann weiter behauptet, es seien Märchen?»
    Reed lächelte verlegen. «Mein Glaube war nicht so stark wie der Schliemanns. Oder vielmehr, ich war ein Abtrünniger.» Ein abwesender Ausdruck trat in seine Augen. «Ich habe ihn mal gesehen. Mit zehn Jahren. Er hat einen Vortrag in der Royal Geographic Society gehalten; mein Vater hat mich mitgenommen. Wir sind mit dem Zug hingefahren, und am Bahnhof Paddington hat er mir ein Zitroneneis spendiert. Lustig, was einem so in Erinnerung bleibt. Jedenfalls hat Schliemann ungeheuren Eindruck auf mich gemacht. Kam in seinem Gehrock hereingefedert wie eine Mischung aus Allan Quatermain und Kapitän Nemo, dazu noch sein deutscher Akzent. Die Stunde verging wie in einem Traum, so als würde man an einem Sommernachmittag in seinen Lieblingsbüchern blättern und nur die aufregendsten Stellen schmökern. Nur dass diesmal alles stimmte . An jenem Abend beschloss ich, dass ich so werden wollte wie Schliemann.»
    «Was ist dazwischengekommen?»
    «Ich wurde erwachsen.» Er seufzte wehmütig. «Ich ging zum Studium nach Oxford – und bin dort geblieben. Es schien der beste Ort für einen jungen Mann, der sich für die Klassiker begeisterte. Stattdessen hat es mir nach und nach alle Begeisterung ausgetrieben. Man kann sich nicht ein Leben lang in dem Abglanz von Herrlichkeit sonnen, den Homers Dichtung einem vermittelt. Man muss ihn studieren, analysieren, erläutern. Und je genauer man hinsieht, desto mehr entfernt man sich. Der erste Gefühlsüberschwang, der einen beflügelt, wird allmählich in rationale Bestandteile zergliedert, die dann immer weiter und weiter zergliedert werden. Ein wenig so, als würde man den Hund der Familie sezieren, um herauszufinden, warum man ihn so gern hat. Wenn man am Ende fertig ist, ist nichts mehr von ihm übrig.» Reed fuhr sich mit seinem Taschentuch übers Gesicht. In der vollbesetzten Straßenbahn war es warm, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. «Außerdem, trotz aller Funde, die Schliemann geglückt sind, wäre es schon überaus verwegen, aus einer Reihe verfallener Hügelfestungen, wie eindrucksvoll sie auch sein mögen, den Schluss zu ziehen, dass Homer in allem recht hatte. Ernsthafte Akademiker sind da sehr zurückhaltend. Wir sind von Berufs wegen zur Skepsis verpflichtet. Wer insgeheim doch gläubig ist, behält das verschämt für sich. Im Lauf der Zeit wird es einem erst peinlich, dann lacht man darüber. Am Ende weiß man nicht mehr, was man je darin erblickt hat.»
    «Aber Sie haben Ihre Ansichten geändert.»
    «In der Höhle. Beim Anblick dieser Reliefs – genau wie Homer sie beschrieben hat …» Reed schüttelte verwundert den Kopf. «Da fiel mir wieder ein, was mich an jenem Abend in Kensington so beflügelt hat. Es war nicht die Dichtung, das kam später. Es waren nicht einmal die Geschichten, so aufregend sie auch waren. Es war die Möglichkeit, die Hoffnung, dass unter all der Gelehrsamkeit, all den Legenden etwas Wirkliches verborgen lag. Etwas Wahres.» Er lächelte verschämt. «Da begann ich wieder zu glauben. Genau wie Schliemann – oder Evans. Apropos …»
    Er sprang vom Sitz auf und zog an der Glockenschnur. Die Straßenbahn machte schwerfällig halt. Grant stand auf, aber Marina blieb sitzen.
    «Nicht meine Haltestelle. Wir sehen uns dann später im Hotel.»
    «Halt die Augen offen.»
    Sie hob ihre Handtasche leicht an, die erstaunlich schwer wirkte – offenbar befand sich mehr darin als bloß Lippenstift und Puder. «Ich kann schon auf mich aufpassen.»

    Als Grant und Reed ausgestiegen waren, standen sie vor den Toren

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