Der vergessene Tempel
Ball gebolzt hatten, waren urplötzlich verschwunden. Grant und der Flüchtende waren die Einzigen, die sich noch auf der Straße befanden. Wer der Mann war oder warum er es so eilig hatte, wusste Grant nicht, doch er hatte im Krieg oft genug ähnliche Szenen miterlebt, um zu wissen, dass es schon bald Ärger geben würde. Er sprang die Stufen hoch und verzog sich hastig in den Schneiderladen, während ein mit griechischen Soldaten besetzter amerikanischer Jeep rasant um die Ecke gebogen kam.
Ein gebeugter alter Mann hob den Blick von seiner Zeitung, als Grant den Laden betrat. An Kleiderständern längs der Wände hingen Sakkos und Flanellhosen, auf denen sich der Staub sammelte. Der Jeep dröhnte vorüber. «Ich suche Herrn Molho», sagte er auf Griechisch.
Der alte Mann musterte ihn durchdringend.
«Herr Molho ist nicht hier.» Er sprach bedächtig, jedes einzelne Wort betonend, ein Symptom seines Alters vielleicht. In seinen walnussbraunen Augen indes flackerte ein Feuer, das in Grant eher die Vermutung nährte, dass dieser Greis noch höchst lebendig war. In der Ferne hörte er das Quietschen von Reifen, gefolgt von lautem Geschrei und einer Salve von Schüssen.
«Wissen Sie, wo er hin ist?»
«Fort.» Der alte Mann nahm ein Maßband und ein Stück Schneiderkreide und kam hinter seinem Tresen hervor. «Wollen Sie vielleicht einen Anzug?» Seinem Blick nach zu urteilen, war er offenbar der Ansicht, dass sein Besucher dringend einen gebrauchen konnte.
«Wo ist er hin?» Grant wich aus hinter einen Tisch, auf dem Krawatten ausgelegt waren. «Ich muss ihn finden.»
«Er ist fortgegangen», beharrte der Schneider. «Im Krieg. Fort.»
Er ließ das Maßband zu Grant vorschnellen, der wusste, wann er sich geschlagen geben musste.
«Falls er zurückkommt, geben Sie ihm das hier.» Auf dem Tresen lag ein Notizblock. Grant nahm einen Bleistift und notierte rasch in griechischen Großbuchstaben seinen Namen und die Adresse seines Hotels. Er riss das Blatt ab und hielt es dem Schneider hin, der hastig zurückwich und den Blick zu Boden senkte. Das Maßband in seinen nervösen Händen war inzwischen heillos verknäuelt.
«Sie verstehen nicht. Er wird nicht zurückkommen. Er war Evraios . Ein Jude. Er kommt nicht zurück.»
«Eine verfluchte Sackgasse. Im wahrsten Sinne des Wortes.» Muir spießte ein Stück Lammbraten auf seine Gabel. Das Hotelrestaurant war praktisch menschenleer. Grant, Reed, Marina und Muir thronten majestätisch an einem Tisch inmitten des noblen Speisesaals, während die Bediensteten, die in deutlicher Überzahl waren, schwatzend und rauchend an der Küchentür beisammenstanden.
«Sie hat mehr Glück gehabt.» Muir deutete mit seinem Messer quer über den Tisch auf Marina. «Hat dem Minister ihre Titten gezeigt und alles Mögliche herausgefunden.»
Marina warf ihm einen Blick voller Abscheu zu und spielte am Schnappverschluss ihrer Handtasche herum. «Im Winter 1941 haben nur vier Archäologen Grabungserlaubnisse für minoische oder mykenische Stätten erhalten. Einer davon war Pemberton …»
«Das wissen wir schon», fiel Muir ihr ins Wort, auf einem Bissen Lammfleisch herumkauend.
«Zwei weitere waren Schweizer, die eher unspektakuläre Ausgrabungen in Orchomenos durchführten. Der vierte war ein Deutscher namens Dr. Klaus Belzig, er hat eine neue Ausgrabungsstätte in Kefalonia geprüft.»
«Belzig?» Grant wechselte einen Blick mit Marina.
«Kennen Sie ihn?», fragte Muir.
«Er war im Krieg auf Kreta, hat dort nach Pembertons Aufzeichnungen gesucht. Wie er dabei vorgegangen ist …»
«Hört sich nach unserem Mann an. Aber was zum Teufel hatte ein Kraut vor dem Krieg in Griechenland verloren?»
«Die Regierung hat alles nur Erdenkliche unternommen, um eine Invasion zu vermeiden, bis zur letzten Minute. Man wollte den Deutschen keinerlei Vorwand liefern.»
«Und er hat Grabungen in Kefalonia durchgeführt, sagten Sie?» Reed hob den Blick von der lappigen Masse Spinat auf seinem Teller. «Kefalonia», wiederholte er, als habe der Name irgendeine geheime Bedeutung. «Bemerkenswert.»
Muir fuhr zu Reed herum. «Was ist an Kefalonia denn so verdammt wundervoll?»
«Kefalonia ist die Hauptinsel der Gruppe, zu der auch Ithaka gehört. Heimat des Odysseus. Falls er die Rüstung erhalten hat …»
«Können wir mal aufhören, hinter Märchen herzujagen? Falls es diese Rüstung tatsächlich gibt, werden wir sie wohl kaum in der Obhut eines einäugigen Riesen und eines Paars
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