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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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singender Meerjungfrauen finden. Wie weit sind Sie mit der Inschrift auf der Tafel?»
    Reed hielt den Blick auf seinen Teller gesenkt und spielte mit den Spinatfasern. Als er wieder hochschaute, waren seine Augen so klar wie der Himmel. «Ich habe gewisse Fortschritte gemacht.»
    «Wie lange wird’s dauern, bis Sie das geknackt haben?»
    Reed lachte kurz auf, so herablassend, dass es schon fast mitleidig klang. «Daran versuchen sich die besten Köpfe auf dem Gebiet jetzt seit einem halben Jahrhundert. Dafür werde ich länger brauchen als einen Nachmittag. Bisher habe ich nicht mal die Symbole entschlüsselt.»
    «Was soll das heißen?», fragte Grant.
    Reed schob seinen Teller fort und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Jede Schrift ist, wenn man es recht besieht, eine Art Code. Der Schreibende nimmt eine Sprache und übersetzt sie in bildliche Symbole, die das geübte Auge dann wieder in die Worte rückübersetzt, die sie darstellen. Bei der modernen Kryptographie geht es darum, sie – in der Regel auf mathematischem Wege – so zu verwandeln, dass nur jemand mit einem bestimmten Schlüssel sie wieder entschlüsseln kann. Nun, normale geschriebene Sprachen weisen eine Fülle wiederkehrender Muster auf. Seien es häufig verwendete Buchstaben, Kombinationen von Buchstaben, Wortfolgen. Wenn man ausreichend Text zur Verfügung hat, kann eine direkte Ersetzungschiffre – eine, bei der jeder Buchstabe immer durch denselben anderen Buchstaben oder dasselbe Symbol ersetzt wird – immer zurückverwandelt werden, falls man die Muster der ursprünglichen Sprache kennt. Deshalb verwenden moderne Kryptographen viel Zeit, Mühe und Einfallsreichtum darauf, Buchstabenfolgen, also Sätze, in Zahlenfolgen umzuwandeln, die so verwickelt sind, dass sie nahezu völlig zufällig wirken.»
    «Sie scheinen sich ja gut damit auszukennen», sagte Marina.
    «Ich habe mich mal damit beschäftigt.» Ein drohender Blick von Muir brachte Reed nachdrücklich davon ab, noch mehr preiszugeben. «Die Probleme, die sich uns mit der Tafel stellen, sind ganz anders gelagert. Wir können davon ausgehen, dass die Männer, die diese Tafeln beschrieben haben, ihre Texte nicht zu verschlüsseln versuchten. Im Gegenteil, das Geschriebene sollte vermutlich so klar und deutlich wie möglich sein. Dreitausend Jahre später jedoch fehlt uns nicht nur der Schlüssel zum Code, sondern jede Kenntnis der Sprache, die hier wiedergegeben wird. Dem kann man sich jetzt auf zweierlei Weise nähern. Man könnte anfangen, indem man sich die Symbole anschaut – oder die zugrundeliegende Sprache zu erraten versucht, und dann herausarbeiten, wie die Symbole diese wiedergeben.»
    «Aber diese Tafeln sind über dreitausend Jahre alt», wandte Grant ein. «Woher wollen wir wissen, was man damals gesprochen hat?»
    «Wir wissen es eben nicht. Was aber Gelehrte nicht von dem Versuch abgehalten hat, andere Sprachen – oder ihre hypothetischen Vorformen – in das Muster von Linear B einzupassen. Alles wurde schon vorgeschlagen: Hethitisch, Baskisch, archaisches Griechisch, Protoindogermanisch, Eteozyprisch, Etruskisch – was besonders drollig ist, da es bisher noch niemandem gelungen ist, das zu übersetzen. Das meiste davon ist purer Unfug, eine ziemlich hoffnungslose Mischung aus dürftigen Zufällen und sturem Optimismus.»
    «Hört sich nach einer weiteren Sackgasse an.»
    «Das sehe ich auch so. Statt also bei der Sprache anzufangen, setzen wir bei den Symbolen an. Wir bemühen uns, ihre Muster zu entdecken, ihre innere Logik und die Regeln, die sie beherrschen, um zu sehen, was wir dabei über die zugrundeliegende Sprache herausfinden können. Das Problem ist nur, wir wissen nicht einmal, mit wie vielen Symbolen genau wir es zu tun haben.»
    «Die dürften doch wohl alle in die Tafel geritzt sein», warf Muir hämisch ein.
    Reed zog eine Augenbraue hoch, eine zurückhaltende mimische Regung, die schon viele Studenten zur Verzweiflung gebracht hatte. «Meinen Sie?» Er zog einen Füllfederhalter aus der Jackentasche und malte, ohne sich um die entsetzten Blicke der Kellner zu kümmern, einen geneigten Buchstaben auf die Tischdecke. «Was für ein Buchstabe ist das?»

    «Ein ‹g›», sagte Grant.
    «Ein ‹y›», sagte Muir.
    «Ein ‹P›», sagte Marina, die Reed am Tisch gegenübersaß und das Zeichen verkehrt herum las.
    Reed lehnte sich mit einem rätselhaften Ausdruck von Genugtuung im Gesicht zurück. «Wirklich? Oder ist es ein ‹j› oder ein ‹

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