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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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hoffnungslos, wie beim Blick in das Gesicht eines Babys nach den Zügen seines Ururururgroßvaters Ausschau zu halten.»
    «Pemberton hatte seine Ansichten. Ich habe das anders gesehen. Dass diese Gedichte das Werk mehrerer Dichter sind, glaube ich nicht. Um etwas so Zusammenhängendes, Geniales zu schaffen, bedurfte es schon eines einzigen Geistes, einer einzigen Vision. Zumindest bin ich dieser Ansicht. Wobei aber außer Frage steht, dass dem Dichter – oder den Dichtern: Dass die Ilias und die Odyssee unbedingt aus ein und derselben Feder stammen, will auch ich nicht behaupten – reichlich Stoff zur Verfügung stand. Ein wahrer Schatz von Mythen, Abstammungslegenden, Volkssagen, Erinnerungen und Überlieferungen. Manche Elemente in den Gedichten sind von fast unheimlicher Genauigkeit – Flüsse, die Homer nie gesehen haben konnte, da sie zu seinen Lebzeiten schon versandet waren; Arten von Waffen und Rüstungen, die zu seiner Zeit seit einem halben Jahrtausend außer Gebrauch waren. Kennen Sie den Helm aus Elfenbeinplättchen, den Schliemann in Mykene ausgegraben hat? In allen Einzelheiten von Homer beschrieben.»
    Anscheinend fiel ihm auf, dass sie ihm nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Er schüttelte den Kopf und rückte sich die Krawatte zurecht. «Entschuldigen Sie. Kern der Sache ist, dass der Dichter, was die Odyssee angeht, aus einer Anzahl unterschiedlicher Überlieferungen schöpfen konnte.»
    «Nun, offenbar hat er sie alle benutzt – und heillos durcheinandergebracht. In manchen Teilen der Odyssee scheint Odysseus im westlichen Mittelmeer umherzusegeln; in anderen Teilen befindet er sich irgendwo in der Nähe Ägyptens; und in den Gesängen zehn bis zwölf häufen sich symbolische Elemente – gefährliche Meerengen, Sirenen, die Inseln der Sonne –, die für gewöhnlich mit der Schwarzmeerregion in Verbindung gebracht werden. Was doch lächerlich ist! Wie kann der Dichter uns weismachen wollen, dass Odysseus – immerhin der klügste der Griechen – ostwärts ins Schwarze Meer segeln würde, wenn er doch heim nach Ithaka gelangen wollte?» Sie klang fast so, als fühle sie sich von der Vorstellung persönlich beleidigt.
    «Genau deshalb bleibt Homer hier wohl derart vage. Es ist schließlich nicht so, als würde er sich mit Geographie nicht auskennen. Wenn er will, kann er so präzise sein wie eine Generalstabskarte. Nein, er hat all diese verschiedenen Geschichten zusammengefasst und versucht hier, die Nahtstellen zu überdecken.»
    Marina seufzte. «Als wären die Dinge für uns nicht schon rätselhaft genug …»
    Beide hoben den Blick, als die Tür geräuschvoll geöffnet wurde. Muir kam hereinspaziert. «Irgendwelche Fortschritte?»
    Reed kratzte sich an einer buschigen Augenbraue. «Marina und ich haben gerade über die vielen Facetten Homers gesprochen.»
    «Gütiger Gott.» Muir ließ sich auf einen Holzstuhl sinken. «Kann ich Sie beide denn nicht allein lassen? Sie werden die Antworten wohl kaum in diesem verfluchten Gedicht finden. Es sei denn, Homer hätte eine seit langem verschollene Fortsetzung geschrieben, in der erklärt wird, wo dieser Schild vergraben wurde. Am besten mit einer beigefügten Karte.»
    Er schob seinen Stuhl zurück und legte sein verletztes Bein auf den Tisch. «Ich habe nach London telegraphiert, wegen unserem Freund Dr.   Belzig – diesem deutschen Archäologen –, um zu sehen, ob wir den kennen. Und was stellt sich raus? Die haben eine richtig dicke, fette Akte über ihn. Er war ein besoldeter Vertreter der Herrenrasse – einer von Hitlers Lieblingsexperten, der ausgesandt wurde, um Beweise für ihre übergeschnappten Theorien zu finden. War 1938 an Ausgrabungen in Kairo beteiligt, hat im Jahr darauf in der Gegend um Sparta herumgeschnüffelt und ist dann im Herbst 1940 nach Kefalonia gekommen. Hat den Krieg auf Kreta verbracht. Zahlreiche Hinweise darauf, dass er bei seinen dortigen Ausgrabungen Zwangsarbeiter eingesetzt hat – bei den Einheimischen galt er als schlimmer als die Gestapo.» Er warf Marina einen Blick zu. «Wie Ihnen ja bekannt sein dürfte. Ein Jammer, dass wir ihn nicht in die Hände bekommen haben.»
    «Was ist denn passiert?»
    «Er hat 1944 die Zeichen der Zeit erkannt und ist nach Berlin geflohen. Vielleicht hat er ja gedacht, sein geliebter Führer würde ihn retten. Ein Irrtum, wie sich herausstellte – so ist er bloß von den Russen statt von uns geschnappt worden. London zufolge hat man ihn das letzte Mal in einem

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