Der vergessene Tempel
«So viel Geschichte, die in der Erde begraben liegt. Unser Leben lang versuchen wir, sie auszugraben, aber immer wieder kommt die Gegenwart und begräbt sie wieder.»
«Was sagt er?», fragte Jackson wehleidig.
«Haben Sie hier mitgegraben?»
Der Grieche nickte. «Ja. Für Belzig. Aber ich bin kein Nazi», betonte er. Er tippte gegen den Kolben seines Gewehrs. «Ich habe viele umgebracht. Aber davor – vor dem Krieg – habe ich für Belzig gearbeitet. Ich habe für ihn gegraben.»
«Was haben Sie gefunden?»
«Steine.» Der Schweinehirt zeigte auf die Fundamente, die aus der Erde hochragten wie einzelne Zähne. «Alte Steine.»
«Auch Keramik?»
«Gefäße, ja.» Er riss sich noch ein Stück Brot ab und kaute es geräuschvoll.
«Und auch eine Tafel? Eine Tontafel, etwa …» Grant deutete die Abmessungen mit beiden Händen an. «… so groß. Mit alter Schrift auf der einen Seite und einer Malerei auf der anderen.»
Der Schweinehirt legte sein Brot hin und starrte Grant durchdringend an. «Haben Sie die gesehen?»
«Ein Bild», rettete Grant sich in Ausflüchte.
«Ela.» Ein verklärter Blick trat in seine Augen. «Als wir die fanden, wussten wir, das ist etwas Besonderes. Belzig hat ein Gesicht gemacht wie ein Wolf. So etwas sei noch nie gefunden worden, hat er gesagt. Und dass es die geheime Karte zu einem verborgenen Schatz sei. Ha.» Er spuckte aus. «Er hätte besser den Mund gehalten. Socratis hat ihn gehört.»
«Socratis? Wer ist das?»
«Mein Cousin. Er hat auch für Belzig gearbeitet. Eines Abends ist er in Belzigs Zelt geschlichen und hat die Tafel gestohlen. Belzig war sehr wütend – wollte uns alle erschießen. Aber Socratis hat er nicht gefunden.»
«Was wurde aus Socratis?»
«Er ist, glaube ich, nach Athen gefahren, um sie dort zu verkaufen. Der Krieg kam, und wir haben viel hungern müssen. Von Deutschen zu stehlen …» Er zuckte mit den Schultern. «Die haben mehr von uns gestohlen.»
«Ist Socratis je zurückgekommen?»
«Nein. Mein Onkel hat erzählt, er hätte sich den Andartes angeschlossen. Die Deutschen haben ihn umgebracht.» Er klaubte eine weitere Eichel vom Boden auf und lächelte traurig. «Also hat Belzig sich am Ende doch gerächt.»
«Was war mit Belzig? Ist er nochmal hergekommen?»
«Nein. Er hat alles, was er gefunden hat, mitgenommen – nach Deutschland vielleicht, glaube ich. Er ist nie wieder nach Kefalonia gekommen.»
Grant überlegte blitzschnell. «Und diese Tafel, die er gefunden hat. Sind Sie ganz sicher, dass es nur eine war? Nicht zwei?»
«Nur eine. Und die hat Socratis gestohlen.»
«Was soll das sein, eine verdammte Chrestomathie ? Klingt wie eine Krankheit, von der man seiner Frau lieber nichts erzählt.»
Reeds Miene blieb offen und höflich. Nur ein leises Zucken an seinem Mundwinkel verriet seinen Widerwillen. «Das ist – oder besser war – ein Buch. Heute liegt es nur noch in Fragmenten vor.»
«Noch mehr verflixte Fragmente. Wie sollen die uns weiterhelfen?»
Reed rang sich ein langmütiges Lächeln ab. «Es könnte genau das enthalten, worauf Sie aus sind.»
«Ein Wörterbuch für Linear B?»
«Die lange verschollene Fortsetzung von Homer.»
Reed hievte sich von seinem Stuhl hoch, rieb sich die tintenfleckigen Hände an der Hose ab und zog eine lange Schublade aus einem Karteikartenschrank, in dem der Bestand katalogisiert war. Leise vor sich hin murmelnd ging er die vergilbten Indexkarten durch. «Da haben wir’s ja.» Er ließ den Blick über die Regalreihen wandern, wie ein Mann, der am Bahnhof in der Menge nach einem bekannten Gesicht Ausschau hält. Sein Blick fuhr langsam höher, bis er an dem obersten Fach eines Regals hängenblieb, etwa zwei Meter über ihm.
«Ich hole es herunter.» Marina rollte eine Leiter herüber, die besorgniserregend knarrte und wackelte, als sie hinaufstieg. Reed stellte sich auf die unterste Sprosse, um sie zu stabilisieren, während Muir einen Blick unter ihr Kleid zu erhaschen versuchte.
«Wenn das die lange verschollene Fortsetzung ist, warum befindet die sich dann hier im Bestand? Sagen Sie mir nicht, dass hier bloß seit zweitausend Jahren niemand nachgesehen hat.»
Reed ignorierte ihn – so vollständig, dass Muir sich schon fragte, ob er seine Gedanken überhaupt laut ausgesprochen hatte. Marina, die inzwischen auf der obersten Leitersprosse stand, reckte sich in die Höhe und zog ein dickes Buch aus dem obersten Fach, woraufhin eine beachtliche Staubwolke aufstieg; sie
Weitere Kostenlose Bücher